Das Raumschiff Tocotronic ist zurück

Die Suche nach der richtigen Verweigerungshaltung macht viel Arbeit. Die Band Tocotronic hat es mit ihrem neuen Album wieder geschafft, bisher erzeugten Erwartungen davonzulaufen. Teeniestars, Diskurspop – das war einmal. Wie Schwäne, weiß und verdorben, gleiten ihre Songs heute dahin

Ins Herz geschlossen von Altrebellen, Poptheoretikern und „Bravo“-Leserinnen

von THOMAS WINKLER

Einmal während des Interviews in einem nichts sagenden Berliner Hotelzimmer spricht Dirk von Lowtzow den Namen seiner Band exakt so aus: Tokotronik. Nicht englisch wie der Name eines Gameboy-Vorläufers, sondern mit ausdrücklicher Betonung auf der ersten und dritten Silbe – als wäre es ein deutsches Wort. Bis dahin hieß es meist „wir“, öfter noch „man“. Vielleicht soll diese Aussprache eine gewisse ironische Distanz markieren. Denn der Satz, in dem Tocotronic dann doch noch zu ihrem Namen kommen, lautet: „Man will ja, dass es noch Tokotronik ist.“

In diesem Augenblick stellt sich dann wie von selbst doch noch die Frage, deren Antwort bis dahin zu klar gewesen schien, um sie überhaupt zu stellen: Was ist Tocotronic?

Die Antworten kommen zögernd. „Unser gemeinsame Art zu spielen …“, meint von Lowtzow. „ … mit Freude“, ergänzt Schlagzeuger Arne Zank. „Genau“, nimmt von Lowtzow den Faden auf, „mit Freude gemeinsam musizieren.“ Bassist Jan Müller schweigt. Er scheint nicht betreten, aber wer weiß. „Man geht immer von dem Grundsound aus, den die Band liefert“, versucht es von Lowtzow noch einmal und paraphrasiert so doch nur, dass Tocotronic mit ihrer neuen Platte, die schlicht den Bandnamen als Titel trägt, heutzutage nicht mehr sein wollen als eine Rockband. Die Identifikationsmaschine aber, die steht still. Tocotronic, wie wir sie einmal kannten, gibt es nicht mehr.

Vielleicht fragt man besser: Wer sind Tocotronic heute? Die antiken Trainingsjacken, die sie am Anfang ihrer Karriere trugen, sind ebenso verschwunden wie Arne Zanks schwere Hornbrille. Heute trägt man Pullunder überm Herrenhemd und bei besonderen Anlässen, im Videoclip zur aktuellen Single „This Boy is Tocotronic“ zum Beispiel, sogar Anzug. Fürs Cover werden keine verwackelten Polaroids mehr geschossen. Noch nie war eine Tocotronic-Platte so schlicht verpackt wie diese, die nur mehr schwarz auf weiß der Name der Band ziert. Das sieht entfernt aus wie das Weiße Album der Beatles, und es hört sich auch nach dem Bemühen an, etwas zu schaffen, das man getrost der Ewigkeit überantworten kann. Noch nie war eine Tocotronic-Platte so musikalisch wie diese, so künstlerisch anspruchsvoll, so bis in den letzten Songwinkel ausgefeilt.

Die Songs, früher eher schnell hingeworfen wie Tagebucheintragungen, schlagen heute weite Bögen, schwellen an, plustern sich auf. Aus hässlichen, lauten, schon mal schmutzigen und unschuldigen Entlein sind seelenruhig dahingleitende Schwäne geworden, blütenweiß – und verdorben. Streicher schwelgen, Elektronik wird in höchstrichterlich abgesegneten Dosierungen eingesetzt, Rhythmen dienen nicht mehr nur dem Vorwärtskommen.

Von den Anfängen der Band, als Dilettantismus Teil des Konzepts war, bleibt eine dunkelgraue Ahnung. Damals sagte von Lowtzow: „Im Grund ist das alles Schrott, was wir machen. Wir können nicht mal spielen.“ Heute sagt er: „Irgendwann kommt man sich vor wie der Clown: Der kann zwar nicht spielen, aber es ist so charmant. Das geht schon wahnsinnig auf die Nerven. Man will es sich in der charmanten Ecke nicht gemütlich machen.“ So ging man erstmals nicht mit fertigen Songs ins Studio, sondern experimentierte ergebnisoffen an Sound und Strukturen. „Das war nicht so pragmatisch ausgerichtet wie sonst. Man schafft Möglichkeiten“, meint Zank, „die sonst nicht existieren. Oft probiert man Sachen aus, ohne dass die einen direkten Einfluss auf die Platte haben.“ Auch wenn der Schlagzeuger einschränkt, „man will die Virtuosität aber auch nicht im Vordergrund haben“, scheint doch als einzige Erinnerung an vergangene Zeiten zwischen avancierten Arrangements und Strukturen nur eines hervor: die Gitarre von von Lowtzow, die sich standhaft jedem Muckertum verweigert und sich immer noch eher ans Lagerfeuer schrammelt, denn eine Rockerpose einnehmen zu wollen. Ein anderer Produzent als ihr langjähriger Mitstreiter Tobias Levin, das weiß von Lowtzow, „der hätte wohl gesagt: So, wie du spielst, so geht das schon mal gar nicht, da kommt jetzt erst mal der Gitarrist von Soundso und nuckelt da mal ordentlich drüber. Das war aber ja genau das, was wir nicht wollten. Zusammen mit Tobias wollten wir ausgehen von dem, was wir drei leisten können.“ So entstehen Kontraste zwischen Können, Wollen und Sollen, „das ist ja erst mal was Spannendes“.

Vor allem aber in von Lowtzows Texten, die so verschlüsselt sind wie nie, erinnert nichts mehr an die identitätsstiftenden Slogans, mit denen Tocotronic mithalfen, die Hamburger Schule zu definieren und deren kurzen, heftigen Flirt mit dem Mainstream befeuerten. Sie fassten den manchmal arg intellektualisierten, diffizilen Diskurspop ihrer Kollegen wie Blumfeld, Die Sterne oder Cpt. Kirk in griffige Zeilen. Zeilen, die hängen blieben, Slogans, die T-Shirts zierten, noch Jahre später als Bildschirmschoner über die Computerbildschirme rechtschaffen links alt gewordener Kulturarbeiter flimmerten und immer wieder in allen denkbaren Zusammenhängen zitiert werden: „Die Idee ist gut, aber die Welt noch nicht bereit“, „Gitarrenhändler, ihr seid Schweine“, „Über Sex kann man nur in Englisch singen“, „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“, „Digital ist besser“, „Wir sind gekommen, um uns zu beschweren“, nicht zu vergessen „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Es war die Zeit, in der Tocotronic auf dem Wege zu Teeniestars waren; es war aber auch die Zeit, in der sie den Viva-Musikpreis Comet in der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ auf offener Bühne und vor versammeltem Business ablehnten mit der Begründung, nicht stolz darauf zu sein, jung und deutsch zu sein. Damit war man endgültig ins Herz geschlossen bei Alternativrockern und Altrebellen, bei den Independent-Ideologen und Poptheoretikern, bekam Applaus von den Berliner Fun-Punkern Die Ärzte und wurde schnell zum Antientwurf mit Teenieappeal erklärt. Tatsächlich blieb man der Bravo-Leserin anschließend nicht ganz unbekannt. Dennoch: Von einem Album hat die Band nie wesentlich mehr verkauft als 70.000 Einheiten. Einheiten, so nennt man das in der Musikindustrie. „Ich weiß nicht, woher dieser Mythos Teeniestar kommt“, seufzt von Lowtzow, „in Hamburg erkennt uns kein Mensch auf der Straße. Oder die Leute finden uns nicht interessant.“

Als Diskurspop sich zu rechnen begann, wollte die Diskurs-Popband alles sein, nur keine Diskurs-Popband mehr. „Aus Kompetenzgründen“ war es damals „nahe liegend, über die unmittelbare Umgebung und die unmittelbare Wirklichkeitserfahrung zu schreiben“, so von Lowtzow. Und diese Umgebung war nun mal geprägt von der allgemeinen Aufbruchstimmung Mitte der 90er-Jahre, dem Hochgefühl, dass Pop mit deutschen Texten plötzlich möglich schien. Eine popmusikalische Zeitenwende später ist die Bauchnabelschau einer Szene, heißt sie nun Hamburger Schule oder wie auch immer, kaum mehr adäquat. Tocotronic begaben sich auf die Suche nach allgemeingültigeren Ausdrucksformen.

Das Raumschiff Tocotronic ist zurück, die Suche mit dem neuen Album nach anderthalb Jahren Arbeit abgeschlossen. Konkrete Orte, ob Hamburg, Freiburg oder Eckimbiss, sind vollkommen eliminiert. Ein Schicksal, das sie mit dem Ich teilen. „Man muss den Leuten nicht immer die eigene Meinung aufdrängen“, sagt von Lowtzow, „und man will sich ja nicht wiederholen.“

Worüber also singt von Lowtzow nun? Beispielsweise vom Nekronomikon, dem bösen Buch aus dem literarischen Kosmos von H. P. Lovecraft. Ansonsten steht alles andere der Interpretation des Hörers offen. „Hi Freaks“ ließe sich lesen als Abrechnung mit der eigenen Prominenz, als Kapitalismuskritik oder als Beschreibung des Spiels mit medialen Wirklichkeiten. Mit aller Kraft sperren sich die Songs gegen letztgültige Zuordnungen: Nach allen Seiten offen, verkopft, melancholisch, aber nicht resignativ. „Poetisch“ nennt das Zank, „weite Räume“ hat Müller gesichtet, und von Lowtzow hofft, „dass einen – kitschig ausgedrückt – die Songs auf eine Reise mitnehmen können“. Und über allem schwebt als Prinzip: Bloß keine Slogans mehr! Bloß keine Erwartungshaltungen erfüllen, sei es nun der Entwurf Teeniestar, sei es Kommerzialität oder Kultstatus.

Denn das Problem für unsere drei Helden war lange: Indem man sich dem Musikgeschäft und dem Establishment offensiv verweigerte und das in griffigen Parolen in die Republik hinaussang, nahm man eine Pose ein, die wiederum ganz prima zur Vermarktung taugte. Als sie 1996 den Comet ablehnten, sah man sich von der Nerd-Gemeinde in Stellung gebracht gegen das Musikgeschäft: „Aber wir haben uns immer bewusst in einen Verwertungszusammenhang gestellt, einfach indem wir Platten herausgebracht haben“, sagt von Lowtzow, „andererseits ging es uns immer um eine gewisse Abgrenzung.“ Nun also ist es raus: Tocotronic sind nicht mehr das, was ihre Anhänger glauben, was sie sind.

So lässt sich die Geschichte von Tocotronic als Verweigerung lesen. Oder genauer: Als Geschichte einer Suche nach der richtigen Verweigerungshaltung, die nach allen Seiten abgedichtet ist. Fortgeschrittene Tocotronic spielen, wenn man so will, Tocotronic für Anfänger.

Tocotronic: „Tocotronic“ (L'Age d'Or/Zomba)Festivals: 22. 6. Neuhausen – Southside Festival, 23. 6. Scheeßel – Hurricane Festival, 16. 8. Köln – Popkomm, 17. 8. Weeze – Bizarre Festival