: Keine Nacht mehr durchmachen
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER
Vielleicht muss man es sich so vorstellen: Im Konvent zur Zukunft Europas werden dieser Tage ziemlich respektlose Therapievorschläge gemacht, wie der gebrechlichen Dame Europa mit den Mitteln moderner Medizin eine Verjüngungskur verpasst werden könnte. Und zur allgemeinen Überraschung erhebt sich die alte Tante ächzend aus ihrem Schaukelstuhl, lässt die Hüften kreisen und wirft die Krücken weg, bevor der Therapieplan überhaupt fertig ist.
Vielleicht aber ist alles in Wirklichkeit viel ernüchternder. Vielleicht geht es auch diesmal nur um die Frage, wer am Ende mehr Macht an sich reißt: die Kommission, das Parlament oder die Regierungschefs. Es steht jedenfalls fest, dass plötzlich Bewegung in die drei Institutionen kommt, an denen noch beim Gipfel in Nizza vor achtzehn Monaten niemand zu rütteln wagte.
Die Außenminister in Luxemburg werden heute über einen Reformvorschlag diskutieren, den eine Arbeitsgruppe aus EU-Botschaftern der Mitgliedsstaaten unter Leitung des außenpolitischen Vertreters der EU, Javier Solana, ausgearbeitet hat. Die fünfzehn Herren haben sich gemeinsam mit der irischen Botschafterin Anne Anderson darüber Gedanken gemacht, wie mit wenigen Handgriffen die Gipfeltreffen der Regierungschefs und die regelmäßigen Zusammenkünfte der Fachminister wirkungsvoller organisiert werden können.
Inzwischen bestreitet niemand mehr, dass eine solche Reform nötig ist. Auf EU-Ebene müssen immer mehr und immer kompliziertere Fragen geklärt werden. Die Regierungschefs aber posieren in Göteborg zum Familienfoto, tragen sich in Nizza ins Goldene Buch der Stadt ein und schieben die drängendsten Probleme in nächtliche Marathonsitzungen, weil die überfrachtete Tagesordnung sonst keine Lücke lässt.
Künftig sollen Gipfel von allem zeremoniellen Firlefanz befreit werden und nur noch einen Tag dauern. Am Vortag tritt ein Rat für „Allgemeine Angelegenheiten“ zusammen, der das Treffen bis ins kleinste Detail vorplant. In der „erläuterten Tagesordnung“ können die Staatschefs nachlesen, welche Punkte unstrittig sind, und welche Alternativen bei denjenigen Fragen bestehen, die noch diskutiert werden müssen. Jede Delegation soll nur noch mit höchstens zwei Teilnehmern am runden Tisch vertreten sein.
Die Schlussfolgerungen des Rates, die als Leitlinien der gemeinsamen Politik große Bedeutung haben, sollen nicht mehr nächtens mit heißer Nadel gestrickt werden. Zuletzt war beim belgischen Abschlussgipfel in Laeken das Malheur passiert, dass übermüdete Beamte unklar formulierten, wie viele Vertreter jedes Land in den Konvent zur EU-Reform schicken soll. Übermüdete Übersetzer hatten das Chaos dann perfekt gemacht. Hinterher waren Diplomaten lange damit beschäftigt, die Missverständnisse auszuräumen.
Künftig soll der Text so gut vorbereitet sein, dass er schon zu Beginn eines Gipfels verteilt werden kann. Für die strittigen Passagen soll der Allgemeine Rat am Vortag Textvarianten vorschlagen.
Damit dieser Traum wahr wird, muss der Allgemeine Rat ebenfalls neu organisiert werden. Bislang ist ein Teil jeder monatlichen Sitzung den „horizontalen Fragen“ gewidmet. Was weder beim wöchentlichen Botschaftertreffen in Brüssel noch bei den Fachministerräten geklärt werden konnte, müssen die Außenminister durchkauen.
Außenminister sollen keine Babysitter sein
Es sei kein Zustand, dass die EU-Außenminister für ihre Fachkollegen aus den Ressorts Landwirtschaft, Entwicklungshilfe, Finanzen oder Energie ständig die „Nanny“ spielen müssen, schimpfte ein britischer Diplomat, als er vergangene Woche im kleinen Kreis Solanas Reformvorschläge lobte. Die Briten und ihre von angelsächsischer Transparenz und Effizienz ebenfalls überzeugten dänischen, schwedischen, finnischen und holländischen Kollegen würden lieber heute als morgen den Gemischtwarenladen „Allgemeiner Rat“ dichtmachen. Denn für ihre eigenen Fachthemen bleibt den Außenministern meist nur das Mittagessen. So werden heute in Luxemburg zwischen Suppe und Nachtisch mal eben die aktuellen Probleme in Indien und Pakistan, die Lage im Nahen Osten und ein mögliches Partnerschaftsabkommen mit Iran durchgesprochen. Beim Kaffee unterzeichnen die fünfzehn noch ein Assoziationsabkommen mit dem Libanon.
Die Reformgruppe um Solana schlägt vor, die Fachministerräte zu Gruppen zu bündeln und damit ihre Zahl von sechzehn auf zehn zu reduzieren. Der Allgemeine Rat aber soll geteilt werden: In einem Rat für Außenbeziehungen sollen sich die Fachminister künftig nur noch um EU-Außenpolitik kümmern. Die Räte für Entwicklungspolitik und Verteidigung würden nach diesem Plan überflüssig. Das hat bereits Entwicklungshilfeorganisationen Alarm schlagen lassen, die fürchten, dass humanitäre Hilfe dann weiter an Bedeutung verliert.
Ein neuer Rat für „Allgemeine Angelegenheiten“ soll das Tagesgeschäft organisieren. Er würde alle gemeinschaftlichen Politikbereiche begleiten und Entscheidungen für die Gipfel vorbereiten. Dieser Plan hat in Deutschland bereits Schattenaußenminister in Aufregung versetzt. Sollte Edmund Stoiber die Bundestagswahl gewinnen, wird er voraussichtlich dem Koalitionspartner FDP seinen alten Erbhof Außenamt zurückgeben wollen. Der künftige Amtsinhaber wäre wohl nicht damit einverstanden, dass die Regie über Gipfeltagungen einem CSU-Europaminister Bocklet übertragen würde. Auch Joschka Fischer hat deutlich gemacht, dass er diesen Arbeitsbereich in einer möglichen zweiten Amtsperiode nicht ans Kanzleramt abgeben will.
Um Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat sich Solanas Arbeitsgruppe einen diplomatischen Trick einfallen lassen: Jede Regierung soll selbst entscheiden, ob sie den Außenminister oder einen anderen Kabinettskollegen in den Rat für allgemeine Angelegenheiten schickt. Während manche Regierungen davon ausgehen, dass die große Entschlackungskur schon in Sevilla beschlossen werden kann, wollen andere – Frankreich vor allem – zunächst in ein langes Palaver eintreten. Die dänische Regierung jedenfalls, die am 1. Juli die EU-Präsidentschaft übernimmt, will vom ersten Tag an nach den neuen Spielregeln arbeiten, wenn in Sevilla grünes Licht dafür gegeben wird. Sie wäre bereit, den Tagungsplan dafür ganz neu zu schreiben.
Auch das Sechs-Monats-Karussell der wechselnden Ratsvorsitze wird den Anforderungen an modernes EU-Management nicht mehr gerecht, stellt die Solana-Gruppe fest. Allerdings könnten hier Sofortmaßnahmen nur kosmetischer Natur sein. Für sinnvolle Reformen müssten die EU-Verträge geändert werden: Eine Gruppe von Staaten könnte über mehrere Jahre den Ratsvorsitz übernehmen. Oder Interessengruppen könnten für einen längeren Zeitraum Sachgebiete betreuen – so würden sich zum Beispiel Schweden, Dänemark und Slowenien mehrere Jahre lang um die Umweltpolitik der EU kümmern, während Frankreich, Polen und Italien für die Außenbeziehungen zuständig wären.
Die Staatschefs könnten aus dem Kreis ihrer Vorgänger einen Ratspräsidenten wählen. Diesen Vorschlag unterstützt auch Giscard d’Estaing. Er leitet derzeit den Konvent, der die Reform der Europäischen Verträge vorbereiten soll. Viele Beobachter meinen, dass er das Ergebnis schon fertig in der Tasche hat, zu dem die Konventsdelegierten sich eigentlich bis Jahresende vorarbeiten wollen. Da er als ehemaliger französischer Regierungschef selbst zum Kreis der möglichen Kandidaten gehört, wäre zumindest die Frage beantwortet, was ihm an diesem Modell so besonders gut gefällt.
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