: Produktiv umdeuten
Interaktive Installationen und gerne aus der Hand gegebene Kontrolle: Die elektroakustische Klangwerkstatt „Noise Factory“ bei der artgenda
von ANDI SCHOON
Einmal im Jahr lädt der Verein – „zur Verbreitung und Förderung experimenteller Kunst und Musik“ – Hörbar e. V. zur „Noise Factory“; dann treffen sich bis zu zwei Dutzend elektronische Soundtüftler in Hamburg, um gemeinsam Geräuscharchitekturen zu entwerfen und diese live zu präsentieren. In diesem Jahr findet diese Klangwerkstatt im Rahmen der artgenda statt – passend, schließlich geht es auch hier um kreative Zusammenarbeit, die im Geheimen erprobt wird, um danach die ganze Stadt damit zu überziehen.
„Minimal discursive elements bring the joy of communication“, sagt Ignas Krunglevicius, Künstler aus Vilnius und einer der Gäste der diesjährigen „Noise Factory“. Krunglevicius benutzt musikalisches Material ganz unterschiedlicher Couleur, bearbeitet es und verteilt es gleichmäßig über im Raum verteilte Lautsprecher. Das Publikum ist in seinen Installationen von einem babylonischen Stimmengewirr umgeben: Hier ein Vladislav Delay-Schnipsel, dort eine Miles Davis-Trompete, zwischendrin lebendige Repetitionen. Der kommunikative Prozess beschränkt sich dabei nicht auf den Zuhörer, der in seinem Kopf eine neue und in dieser Form einmalige Klangwelt konstruiert, je nachdem, wo im Raum er sich gerade befindet – der Sound ist auch offen für einen Dialog mit digitalen Bildern.
Diesen Ansatz findet man bei vielen „Noise Factory“-Künstlern: Verwendung von vorgefundenem Material, integrierte Videoarbeiten und den offenherzigen Willen, einen Teil der Kontrolle aus der Hand zu geben. Natürlich nur an Menschen, von deren künstlerischer Integrität man überzeugt ist – das aber darf man bei der ausgesuchten Schar durchaus sein. Eingebettet in ein Netz aus vertraulichen Beziehungen verschwimmen die semantischen Inhalte: Wortbedeutungen verschieben sich, je nachdem, wer sie wann und wo spricht; Bildsprache verhält sich in Abhängigkeit vom Soundtrack. Bewegungen sind vieldeutig – es kommt auf das Licht an, in das man sie taucht.
Das wissen auch Membrana aus Kaliningrad, die sich eigenen Angaben zufolge mit Mode, Wissenschaft und „action“ beschäftigen. Da kann es durchaus passieren, dass sich die vermeintliche Lounge-Musik des Trios aufgrund ungeahnter Reaktionsverhältnisse unvermittelt in ihre düstere Kehrseite verwandelt – zumal unter Fremdzugriff im offenen System „Noise Factory“. Dessen kollektive Arbeitsergebnisse werden der Öffentlichkeit noch bei drei Gelegenheiten präsentiert: Heute Abend gibt es ein Konzert im B-Movie, morgen am helllichten Tage eine Performance im Hauptbahnhof. Unter dem Motto „Re-Öffentlichisierung“ werden dessen Geräusche aufgenommen und über im Reisegepäck versteckte Lautsprecher abgespielt – eine Aktion, die den Geist des kürzlich vom Radiosender FSK und der Kunsthalle initiierten Bahnhof-Balletts atmet, bei dem die Tänzer geisterhafte Bewegungsbefehle über kleine Radios bekamen.
Wenn die artgenda am Freitag schließlich zum 30-stündigen Abschluss-Happening „Baltic Boat Cruise“ an den Steindamm bittet, wird sich im „Maschinenraum“ eine interaktive Installation der Electronic-Art-Gruppe Das Kombinat finden: Ein Computer, sinnlich ausgestattet mit Mikrofonen, Lautsprecher und Videoprojektor, nimmt die Geräusche der Umgebung auf und wirft sie in manipulierter Form zurück. Die Teilnehmer der „Noise Factory“ werden sich erwartungsgemäß in jener Umgebung als Maschinenraumarbeiter Gehör verschaffen und hören und sehen, was passiert, auf gemeinsamer Suche nach produktiver Umdeutung.
heute, 21 Uhr, B-Movie; Re-Öffentlichisierung des Hauptbahnhofs: morgen, 14 Uhr, U/S-Hauptbahnhof (tbc!); Baltic Boat Cruise: Freitag, 16 Uhr, Landung Sonnabend, 23 Uhr, artgenda Center (Anmeldung nötig: ☎ 28 40 96 80)
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