: Wer arbeitet, darf Student bleiben
Beschäftigte, die ein Studium beginnen, sind nicht automatisch sozialversicherungspflichtig, entscheidet das Berliner Sozialgericht. Die Versicherungsträger müssen nun im Einzelfall prüfen, ob jemand als Student oder Beschäftigter gilt
Beschäftigte, die ein Studium aufnehmen, sind nicht automatisch sozialversicherungspflichtig. Das hat das Berliner Sozialgericht gestern in zwei Fällen entschieden. Demnach sind Beschäftigte, die nach dem Beginn ihres Studiums bei dem gleichen Unternehmen beschäftigt bleiben, ihre Arbeitszeit jedoch reduzieren und dem Studium anpassen, versicherungsfrei in der Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung.
Das Sozialgericht hat damit der seit 1. April 2002 geänderten Verwaltungspraxis der Sozialversicherungsträger eine Absage erteilt. Diese hat eine Versicherungspflicht immer dann bejaht und dem entsprechend Beiträge eingefordert, wenn ein vor dem Studiumbeginn bestehendes Beschäftigungsverhältnis fortgesetzt wird – unabhängig von der tatsächlich geleisteten Stundenzahl. In jedem Einzelfall müsse nun entschieden werden, so das Sozialgericht gestern.
Die Versicherungspflicht oder -freiheit von beschäftigten Studenten richtet sich danach, ob das Studium Zeit und Arbeitskraft überwiegend in Anspruch nimmt und der Betreffende seinem sozialrechtlichen Erscheinungsbild nach Student oder Beschäftigter ist. In der Praxis wird in der Regel nach der 20-Stunden-Regel entschieden. Wer während des Semesters weniger als 20 Stunden wöchentlich arbeitet, ist in der Kranken- und Pflegeversicherung beitragsfrei. Studenten unterliegen allerdings seit 1997 der Rentenversicherungspflicht, wenn sie mehr als geringfügig beschäftigt sind. Als geringfügig beschäftigt gelten Menschen, die weniger als 325 Euro im Laufe eines Monat verdienen.
In einem der gestern verhandelten Fälle ging es um den Beschäftigten einer Fast-Food-Kette, der seit dem Sommersemester 2000 Jura an der Humboldt-Uni studiert, nachdem er sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg gemacht hatte. Während des Semesters arbeitete er durchschnittlich 18 Stunden pro Woche, und zwar vorwiegend am Wochenende und abends. Die 82. Kammer des Sozialgerichts hat gestern entschieden, dass der Betreffende dem Erscheinungbild nach in erster Linie Student und nicht Beschäftigter ist.
Die von den Sozialversicherungsträgern zur Begründung herangezogene Entscheidung des Bundessozialgerichtes, nach der Versicherungspflicht bei einem berufsintegrierten Studium besteht, lässt sich nach Ansicht des Sozialgerichtes in der Invalidenstraße in Mitte nicht verallgemeinern. Die Krankenkassen seien daher nicht davon entbunden, die Versicherungspflicht im jeweiligen Einzelfall zu prüfen.
Mit der gestern gefällten Entscheidung haben bereits drei Kammern des Berliner Sozialgerichtes entschieden, dass bei dem genannten Personenkreis jeweils die Einzelfallumstände zu prüfen seien. Dabei sei auch die 20-Stunden-Regel zu berücksichtigen. Studenten und Studentinnen, die nebenher regelmäßig arbeiten gehen müssen, um ihre Hochschulausbildung zu finanzieren, werden die Entscheidung des Sozialgerichtes mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen.
RICHARD ROTHER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen