: Manchmal fehlt den Studis der Blick aufs Ganze
taz-Reihe: Wie egoistisch sind Studierende? Nicht allen, die gegen Studiengebühren sind, fehlt das Gespür für die allgemeine Bildungsmisere
Wer kennt uns schon? Wer sind die Studierenden heute? Und: Was wollen die? – Wer hierzu eine Antwort erwartet, muss enttäuscht werden. Es gibt nicht „die Studierenden“. StudentInnen sind keine homogene Masse. Eine politische Einheit sind sie erst recht nicht. Pauschalisierung zwecklos.
Schwierig ist es daher auch, ein pauschales Urteil über die Proteste der Studierenden zu fällen. Es gibt viele intelligente Aktionen, die viel Wert auf Solidarität mit nichtstudentischen Gruppen legen. Dabei positionieren sich die Studierenden sehr deutlich im Kontext einer Misere, an der das ganze Bildungssystem leidet.
Viele Studi-Vertretungen haben in den letzten Wochen immer wieder betont, dass sie nicht gewillt sind, sich gegen andere von „Sozialabbau und Bildungsklau“ betroffene Gruppen ausspielen zu lassen. Kontakte zu Gewerkschaften, SchülerInnen und Eltern sowie die Einbindung in Netzwerke wie die europaweite Initiative Education is not for sale gehören für viele Studierendenvertretungen zur Basis ihrer Arbeit – auch außerhalb von Streikzeiten. Dieser Protest ist nicht einseitig auf die Frage von Studiengebühren fokussiert; er darf daher nicht mit der vorhandenen Bandbreite der studentischen Proteste verwechselt werden.
Tatsächlich lässt sich feststellen: Bei einigen Aktionen haben Studierende den gesamtgesellschaftlichen Blickwinkel nicht eingenommen. Und es bestand auch eine gewisse Blindheit bei der praktischen Umsetzung solcherlei Ansprüche im „Protestalltag“. Hierbei hat es sich jedoch um eine ganz bewusst inszenierte Eigennützigkeit gehandelt. Eine solche Eigennützigkeit im Sinne des Eintretens für eigene Interessen ist ja auch gar nichts Verwerfliches, sondern durchaus emanzipatorisch – solange es nicht auf Kosten anderer geht. Warum aber sollte ein gebührenfreies Studium ein Nachteil für andere sein? Nur wer sich dem Sachzwang der leeren Kassen unterwirft, begibt sich in die Arena gegenseitiger Eigennutzvorwürfe im Kampf um die Umsetzung eines „sozial gerechten“ Sozialabbaus.
Der Krakeel über eigennützige oder egozentrische Proteste mag seinen Ursprung auch in der unreflektierten Übernahme des Konstrukts des „Bummelstudierenden“ durch die Medien haben. Im Gefolge der unsäglichen „Faulenzer-Debatte“ über SozialhilfeempfängerInnen und Arbeitslose fällt das auf fruchtbaren Boden. (Langzeit-)Studierenden werden so gern als privilegierte SozialschmarotzerInnen gebrandmarkt. Dieses Bild lässt die finanzielle Nöte, miese Studienbedingungen, Prüfungsängste und biografische Besonderheiten der (Langzeit-)StudentInnen außer Acht – und führt fast automatisch dazu, dass den studentischen Protesten Eigennützigkeit unterstellt wird.
Die mangelnde Sensibilität von Studierenden für den Blick über den Tellerrand der eigenen Probleme ist Folge mangelnder theoretischer Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen. Erst die Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensumständen, der Blick auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung individuellen Handelns ist es, der das Bewusstsein für eine solidarische Protestkultur schärft. Ein Bewusstsein darüber, dass Solidarität im höchsten Maße eigennützig ist. Wenn dieses Bewusstsein bei einigen Studierenden nicht sehr ausgeprägt ist, lässt dies keineswegs bereits Schlüsse über mehrheitlich eigennützige Studierende zu. Vielmehr kann es uns Aufschluss geben über ein Bildungssystem, das sich nicht erst seit Pisa zu den selektivsten dieser Welt zählen muss.
Eine Gesellschaft, in deren (Hoch-)Schulen Leistungsdenken und karriereorientierte Normierung von Biografien einen festen institutionellen Rahmen haben, muss sich nicht wundern, wenn sich mitunter auch die inhaltliche Ausrichtung von Protesten entsprechend stromlinienförmig gebärdet. ANIKA SUSEK
Die Autorin (24) studiert an der Uni Münster. Sie ist die Erste, die unserer These widerspricht: „Die Studiengebührengegner sind eigennützig. Sie sind weder intellektuell noch organisatorisch mit der Bewegung gegen die Bildungsmisere verknüpft.“ Weitere Texte bitte an: bildung@taz.de
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