: Kein Reifezeugnis: Die Schule diskriminiert
Pisa 2000 belegt den Klassencharakter der gegliederten deutschen Schule. Zuwanderer werden diskriminiert. Das Bürgertum sichert seine schulischen Vorteile. Auslese und Abschieben gehören zum nicht hinterfragten Berufsbild der Lehrer. Acht Fragen von JUTTA ROITSCH an die GEW und die Nation
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Die Studie „Pisa 2000“ ist eine scharfe Momentaufnahme nicht nur der Leistungskompetenzen von 15-jährigen Jugendlichen, sondern des gesamten Bildungssystems. Sie belegt akribisch und wissenschaftlich abgesichert den Klassencharakter des gegliederten Schulsystems und darüber hinaus zum ersten Mal in dieser Schärfe die ethnische Diskriminierung von Jugendlichen in Deutschland. Die Kunstfigur, in der sich alle Benachteiligungen des Schulsystems bündeln, war in den späten 60er-Jahren das katholische Arbeitermädchen vom Lande. Heute ist es der Junge mit Migrationshintergrund oder einem arbeitslosen Vater, der in einem heruntergekommenen Stadtteil wohnt. Von Chancengleichheit ist das deutsche Bildungswesen weit entfernt. Die erste Anfrage lautet daher: Wo sieht die Bildungsgewerkschaft GEW ihre eigene Aufgabe, das Bürgerrecht auf Bildung einzulösen?
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Vom Kindergarten bis zur Berufsschule ist die Selektion bei den Professionellen [Lehrern, d. Red.] zu einem integralen Bestandteil ihres beruflichen Selbstverständnisses geworden. Jeder an seinem Arbeitsplatz glaubt zu wissen, welches Kind, welcher Jugendliche in seiner Institution „falsch“ ist. Auslese und Abschieben, Zurückstellungen und Verweise gehören nicht zum hinterfragten Berufsbild von Erzieherinnen und Pädagogen wie Pädagoginnen: Wie ist dieser Selektivität im Kopf professioneller Pädagogen zu begegnen?
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Ohne jedes öffentliche Echo sind bisher die Erkenntnisse und Belege in der Studie „Pisa 2000“ geblieben, nach denen die „heimlichen Lehrpläne“ für die Jungen und die Mädchen ohne jede Einschränkung nach wie vor gültig sind. An der Geschlechterdifferenz in der Schule und im Unterricht hat sich trotz umfangreicher wissenschaftlicher Untersuchungen nichts geändert. Die typisch weiblichen und typisch männlichen Ausprägungen durchziehen den Schulalltag ungebrochen. Warum schaffen es die LehrerInnen nicht, sich dem Thema Geschlechterdifferenz überhaupt zu nähern?
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In aller Schärfe ist nicht zuletzt durch Pisa 2000 herausgearbeitet worden, dass die Institution Schule in Deutschland Jugendliche nach Ethnien diskriminiert. Selbst die Forscher sind überrascht von dem Ergebnis, dass in Deutschland stärker ethnisch selektiert werde als in den USA. Jugendliche mit Migrationshintergrund werden systematisch in und durch die Institution Schule benachteiligt. Wo muss die Aufklärung der GEW an- und einsetzen, um dieser ethnischen Diskriminierung zu begegnen?
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In der Befragung von Schülerinnen und Schülern beklagen die 15-jährigen Jugendlichen wiederholt, dass weder die Eltern noch die Lehrer sonderlich an ihnen Interesse zeigen. Krasser noch deutet sich in den Antworten an, wie sehr die Jugendlichen Zuwendung und Zuneigung vermissen: Eltern wie Lehrer merkten nicht, wenn es ihnen schlecht gehe, sie fragten nicht und interessierten sich nicht. Das provoziert vor allem nach den jüngsten Ereignissen in Erfurt die Frage: Was gedenken Lehrerinnen und Lehrer konkret zu tun, um in der Schule die von den Jugendlichen vermisste Kultur der Anerkennung zu verankern?
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Seit Timss und Pisa auf dem Tisch liegen, sind diejenigen Schulsysteme ins Blickfeld vor allem der Medien und der Politiker geraten, die im Leistungsranking „besser“ abschneiden. In Europa gilt dies vor allem für die skandinavischen Länder wie Schweden und Finnland. Die Schulstruktur unterscheidet sich von der deutschen grundsätzlich: Schweden hat sein Schulsystem in den 80er-Jahren entbürokratisiert und vor allem kommunalisiert. Finnland kennt praktisch keine Schulaufsicht, aber auch keine Selektion. Die einzelne Schule kann ihre Kinder weder als „falsch“ einstufen noch abschieben. Ist die Gewerkschaft bereit, wieder in die Strukturdiskussion um die deutsche Schule einzusteigen?
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Zu der scharfen sozialen Selektion, die in den deutschen Schulen stattfindet, gehört nach „Pisa 2000“, dass die von den Forschern so genannte oberste Dienstklasse der „Leistungsträger“, „Führungskräfte“ und generell der Akademiker das Gymnasium als die angemessene Schulform für ihre Kinder beherrscht. Pisa E könnte den Nachweis erbringen, dass bestimmte Gymnasien nahezu ausschließlich von Kindern der obersten Dienstklasse besucht werden, katholische und evangelische (oder ökumenische) Gymnasien, städtische Gymnasien mit Latein als erster Fremdsprache, Spezialschulen im Osten mit naturwissenschaftlichem Profil. Die oberste Dienstklasse, das Besitz- und Bildungsbürgertum, versteht es heutzutage im staatlichen oder im privaten Schulsystem, die Vorsprünge für ihre Kinder zu sichern. Wenn eine Gewerkschaft sich dem Bürgerrecht auf Bildung für alle Jugendlichen unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit wieder annähert, muss sie auch die Frage beantworten, wie ihr Engagement für die ausgegrenzten und benachteiligten Jugendlichen aussehen soll. Wo sind die Bündnispartner für eine aufgeklärte, ernsthafte Debatte über eine neue Phase der Demokratisierung des deutschen Bildungswesens und gegen die krasse Benachteiligung rund eines Viertels der Jugendlichen?
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Aus sehr unterschiedlichen Gründen integriert das hoch gelobte deutsche duale System der Berufsausbildung nicht mehr die Jugendlichen ohne ein Zeugnis der Reife. Die schwächeren Jugendlichen, die ohne Abitur und mit mittelmäßigen Zeugnissen, müssen auf dem Lehrstellenmarkt Angebote annehmen, die ihnen nach der Lehre über kurz oder lang den Berufswechsel aufnötigen. Die Grundberufe sind heute den Abiturienten und guten bis sehr guten Realschülern vorbehalten. Das Handwerk, das noch in den 70er- und 80er-Jahren die Integration von ausländischen Jugendlichen in den Beruf und damit auch in die Gesellschaft geleistet hat, fällt – aus höchst unterschiedlichen Gründen – zunehmend in dieser Funktion aus. In den östlichen Bundesländern ist es nach zehn Jahren nicht gelungen, das duale System überhaupt zu etablieren: Wenn der Übergang von Schule in die Ausbildung nicht mehr funktioniert und die Ausgrenzung noch verschärft, wer leistet dann noch die Integration der Jugendlichen in eine Gesellschaft, die nach wie vor in der gesellschaftlichen Anerkennung Beruf, Beruflichkeit und Erwerbstätigkeit hoch besetzt?
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