DIE LOJA DSCHIRGA IST GEFANGEN ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE: Demokratie ohne Regeln
Die afghanische große Ratsversammlung kommt seit Tagen nicht voran. Auf der Rednerliste der Loja Dschirga stehen hunderte Namen, doch nur noch wenige kommen zu Wort. Mittlerweile hören auch nur noch wenige zu, wenn Redner und Rednerinnen das Publikum mit den immer gleichen Problemen des Landes strapazieren: Zerstörte Schulen und kaputte Straßen, fehlende Jobs, Krankenhäuser, Telefone. Die völlig unfähige Leitung dieser Loja Dschirga ist nicht in der Lage, die Debatten zu strukturieren, eine straffe und transparente Rednerliste zu führen und Redezeiten zu begrenzen. Vielmehr wird autoritätsfixiert der Prominenz uneingeschränkt das Wort gegeben. Alle Vorschläge werden mündlich vorgetragen, Redezeit sparende schriftlich formulierte Anträge sind unbekannt.
Traditionell ist die Loja Dschirga ein Konsultativorgan in Notzeiten, das von Afghanistans Herrschern immer dann einberufen wurde, wenn sie grundlegende Entscheidungen zu fällen hatten und sich dabei breiter Unterstützung sicher sein wollten. Meist war die Entscheidung schon gefallen und der Herrscher ließ diese absegnen. Entschieden wurde traditionell im Konsens, also wurde so lange diskutiert, bis man sich einig war. Mehrheitsentscheidungen waren so unbekannt wie Kampfabstimmungen und Minderheitenrechte.
Die jetzige Loja Dschirga fußt auf dieser Tradition. Eine Abstimmungsniederlage bedeutet auch heute noch einen schweren Gesichtsverlust. Doch neben archaischen Dorfältesten, Stammesführern, Mullahs, Mudschaheddin und skrupellosen Warlords sitzen jetzt mit LehrerInnen, ÄrztInnen, weltgewandten Geschäftsleuten und Intellektuellen auch Delegierte in der Versammlung, die das moderne Afghanistan verkörpern. Sie alle sollen gemeinsam einen Weg für Afghanistans Zukunft finden. Vereinbarte Regeln dafür gibt es nicht. So ist diese Loja Dschirga der verzweifelte Versuch, in einem von Krieg zerstörten und von brutalen Machtkämpfen geprägten Land einen traditionellen Stammesratschlag mit Elementen der parlamentarischen Demokratie zu verknüpfen. Eine kaum lösbare Aufgabe. SVEN HANSEN
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