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Im Fabulieren die Welt neu erfinden

Gegensätzliche Wirklichkeitsinszenierungen auf dem Festival italia! cinema!: „Brenne im Wind“ und „Liebe? – Vielleicht!“

von DORO WIESE

Keine nationale Kinematographie hat in den letzten 20 Jahren mit Hollywood konkurrieren können. Für den italienischen Film, der sich in den 60ern und 70ern großer Popularität erfreute, ist dieser Niedergang offensichtlich. Es gibt kaum RegisseurInnen, die in den letzten Jahren den Sprung auf das internationale Parkett schafften. Einer von ihnen ist Silvio Soldini. Letztes Jahr landete sein Brot und Tulpen einen Erfolg bei Publikum und KritikerInnen. Nun wird sein neuster Film Brenne im Wind im Rahmen des italia! cinema!-Festivals in den Zeise-Kinos gezeigt. Ein Anlass von vielen, die Qualität des italienischen Films zu überprüfen.

Soldini greift mit Brenne im Wind tief in die Emotionskiste. Als Zauberlehrling ruft er seine Geister: „Liebe, Herz, Schmerz! Verwandelt euch und dient dem großen Erfolg!“ Kein Motiv ist ihm zu groß für diesen Film. Geschwisterliebe? Reih‘ dich ein! Einsamer Dichter? Nimm Platz in meinem Film! Menschen auf der Flucht vor der Vergangenheit? Sicherlich unterzubringen! So erzählt sich in Überfrachtung ein einfaches Leben. Ziel der Angelegenheit: das Besondere im Allgemeinen. Denn Tobias, Hauptfigur des Films, ringt mit der Alltäglichkeit. Um ihn herum sterben Menschen wie die Fliegen: aus Liebeskummer, Langeweile, Heimweh, Deplatziertsein.

Ein Schicksal, das auch Tobias heimsuchen könnte, denn das Leben ist brutal. Aber er hat einen geheimen Schatz: seine Fantasie, die ihm Worte, Gedanken, Geschichten bringt – die filmische Realität und somit Film wird. Dagegen ist nichts einzuwenden, bliebe Tobias nicht im Archetypischen. Erst der große Topf der Urphantasien, in dem Vatermord, Muttermord, Vertreibung und Geschwisterliebe im anvisierten Kino der Emotionen schwimmen, lässt jede Besonderheit zum Immer-schon-gewussten gerinnen.

Da hilft auch nicht der Griff zu ungewohnten Stilmitteln. Zwar ist es eine schöne Idee, poetische Gedanken als Stimme aus dem Off im Film unterzubringen. Allein, es reicht nicht. Zu kontern wäre Soldini mit seinem Landsmann Pasolini – die Poesie des Films liegt in der ihm eigenen Sprache verankert. Poetisch sein in Bild und Ton, in aller Nüchternheit, Soldini würde gern, doch es gelingt ihm nicht. Nur gut, dass ein anderer Festivalfilm an die Möglichkeiten von Filmen herantritt, ohne dass Dollarzeichen in den Zwischenräumen aufblinken. Das große Spiel mit der Ästhetik nimmt L‘amore probabilmente auf.

Liebe? – Vielleicht!, wie der Film von Giuseppe Bertolucci in deutscher Übersetzung heißt, gewinnt seine Besonderheit daraus, dass er eine kulturell beladene Frage nicht durch Motive und Erzählstruktur, sondern durch seine Machart zu stellen vermag. Wenn er sich der Unterscheidung von Lüge, Realität und Illusion hingibt, unternimmt er zwar Ausflüge in eine Begriffsgeschichte, die schon seit Platon auf dem Seziertisch der Philosophie liegt: Wie unterscheiden wir Wirklichkeit und Trugbild voneinander? Doch einer Beantwortung enthält sich der Film.

Stattdessen evoziert er eine Ununterscheidbarkeit, indem er – ähnlich jenem Ausspruch des Kreters, dass alle Kreter lügen – Bilder der Wirklichkeit in das Theatralische einlässt – und umgekehrt. Beides ist unhintergehbar miteinander verwoben. Hamlet – so heißt es an einer Stelle – gibt es nicht, aber es gibt Hamlet, weil wir ihn wieder und wieder erfinden.

In Liebe? – Vielleicht! schauspielert eine Schauspielerin im Leben, während ihr Leben im Theater Einzug hält. Da aber dieses Spiel abermals durch die filmische Illusion hindurch geht, befinden sich die KinozuschauerInnen wie Alice im Land der Spiegel, durch die wir hindurch gehen können, um die Wahrheit zu finden. Das ist es, was Liebe? – Vielleicht! uns nahe legt: Theater ist das einzig Wirkliche im Leben. Diese Erkenntnis begründet keine Resignation, sondern verleitet zu großer Erfindungskunst im Fabulieren von Lebensgeschichten. Es ist ein Film über den Konjunktiv, als Möglichkeitsform und Berührungsglied, als Geschoss in den Zuschauerraum.

Das 10-tägige Festival startet Fr, 20 Uhr mit Qui non è il paradiso (u.a. mit Regisseur G. M. Tavarelli, Hauptdarsteller Fabrizio Gifuni, Kultursenatorin Dana Horàkovà); L‘amore probabilmente: Do, 27.6., 22.30 Uhr; Fr, 28.6., 17.30 Uhr; Brucio nel vento: So, 30.6., 20 Uhr; weitere Termine können dem ausführlichen Festivalprogramm entnommen werden oder unter www.zeise.de

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