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Kalkuliert emotional

Die Gratwanderung von großen Gefühlen zwischen Medialität und Authentizität: Die Ausstellung „Over the Moon“ im Kunstraum Kreuzberg

von OLIVER KOERNER V. GUSTORF

Nichts scheint unerfüllte Sehnsucht besser auszudrücken als der sentimentale Song einer ehemaligen Filmgöttin, deren verflossener Ruhm in Matinees und nächtlichen Wiederholungen im Kabel-TV zelebriert wird. Wenn Deanna Durbins Song im Kurzfilm von Oliver Harrison erklingt, fallen Sterne zur Erde und Knospen sprießen aus der verschneiten Erde empor, die sich zu verschnörkelten Buchstaben formen, um schließlich am Firmament der Einsamen und Liebenden eine glitzernde Parole zu hinterlassen – Love is all.

Inspiriert von Durbins 1940 gesungener Melodie, huldigt Harrison in schwarzweißen Bildern den großen Gefühlen der unsterblichen Heldinnen des Glamour und des Camp – und gleichfalls jener ironischen Begeisterung, die ihnen von Fans und Eingeweihten entgegengebracht wird. Sein wunderschöner Clip ist zur Zeit im Kunstraum Kreuzberg in der Ausstellung „Over the Moon“ zu sehen. Im Englischen bedeutet der Titel so viel wie „überglücklich“, und in diesem Sinne widmen sich die Kuratoren Stéphane Bauer, Kathrin Becker und Laura Bruce Arbeiten, die die Gratwanderung „großer Gefühle“ zwischen aktueller medialer Inszenierung und Authentizität untersuchen. So wie Harrisons digital bearbeiteter Loop an die Bilder von Pierre & Gilles oder Buz Luhrmanns „Moulin Rouge“ erinnert, ist auch ein Großteil der gezeigten Arbeiten von Retro-Ästhetik und Popkultur-Zitaten bestimmt: „I wanna be an anarchist“, schallt es aus den Kopfhörern von MK Kähnes mit rotem Velours ausgelegtem Kunststoffkoffer, in dessen luxuriös gestalteten Ausbuchtungen zwar die Sex-Pistols-CD Platz findet, nicht aber die einstige Rebellion. Das wirkt formal sehr schick, zugleich auch erstaunlich didaktisch.

Angesichts der ernüchternden Wirkung von Guidomobilen und Walser-Debatten erscheinen die emotional aufgeladenen Gesten vergangener Alternativkulturen so mythisch wie die Gender-Diskurse der Neunziger oder die Hightimes von Hollywood. Wie mühsam es geworden ist, diesen Fundus zu nutzen, um einen betont authentischen Ausdruck zu erzeugen, zeigen gerade jene Arbeiten, die versuchen, den Anschein von zeitgemäßer Subversion zu erwecken. So wachsen in den Jungs-Zimmern von Diego Schindler-Castro oder von Martin Eder keine opulenten Zelluloid-Knospen, sondern etwas gequälte Rock-Installationen. Während Schindler in einer Vorher/Nachher-Parodie des Cure-Sängers Robert Smith auf zwei Videomonitoren den Einfluss von Schlankheitsdrinks und Bier auf die männliche Psyche untersucht, ehrt Eder mit brillant gemalten Pin-ups, selbst gebastelter Musik und Gothic-Graffiti die Schriften Georges Batailles. Auch der Stil von Piotr Dluzniewskis auf einem riesigen Wandgemälde festgehaltenen Debütantinnen, pubertierenden Knaben, gepiercten Dominas, Gummibäumen und Heizkörpern schwankt unentschlossen zwischen poetischem Statement und gewollter Obszönität.

„I'll try to get closer“ heißt die in Plexiglaskästen präsentierte Bilderserie von Kerstin Drechsel. Mit diesem Entschluss verbindet sich eine ungeheure künstlerische Präzision, die deutlich wird, je weiter man sich ihren reproduzierten Aquarellen von Crackrauchern, koksenden und küssenden Frauen annähert. Hinter dem malerischen Eindruck verbergen sich Druckraster und verräterische Halterungsklammern, die jede ihrer expressiven Gesten als präzise Mischung aus Gefühl und Kalkül offenbaren: Wenn Gefühle aus dem Lot geraten oder zu vage werden, hilft nur noch professionelle Hilfe. Der gescheiterte Rückzug in die Bastionen des Privaten endet gelegentlich nicht nur in der Ungenauigkeit von Gefühlen, sondern auch, wie in Ulrike Fesers nüchterner Fotoserie, zwischen Sitzkissen und Yucca-Palmen im freundlichen Design der Therapiepraxen.

Bis 30.06., Di–So 14–19 Uhr, Kunstraum Kreuzberg, Mariannenplatz 2.

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