: „Es wird noch andere Projekte treffen“
Schon seit Jahren wird im Behindertenbereich an der Sparschraube gedreht, sagt der zuständige Landesbeauftragte Martin Marquard. Dabei sei es noch ein weiter Weg, bis Berlin ohne Barrieren und für Behinderte lebenswert ist
taz: Herr Marquard, 35.000 Berliner sind behindert. Das sind 10 Prozent. Entspricht die behindertengerechte Infrastruktur in der Stadt diesen Zahlen?
Martin Marquard: Davon kann man noch nicht reden. Mit der Umgestaltung der Infrastruktur im Sinne von Barrierefreiheit und Nutzung für behinderte Menschen ist erst vor gut zehn Jahren begonnen worden. Da ist noch lange kein Endpunkt erreicht. Aber wir sind auf einem guten Weg.
Wer steht für eine behindertenfreundlichere Politik – die große Koalition oder die rot-rote Landesregierung?
Das kann man nicht so einfach sagen. Das hängt von der politischen Situation und vielen anderen Umständen ab. Die Behindertenverbände sind dankbar für die kurze Periode von Rot-Grün 1989/90, in der ganz entscheidende Weichen für die barrierefreie Stadt gestellt worden sind. Durch die Olympiabewerbung und die Wende war eine gewisse Euphorie da. Die Behindertenverbände haben die Gunst der Stunde nutzen können und wichtige Beschlüsse in Abgeordnetenhaus und Senat erreicht.
Können Sie ein paar Bespiele für die Erfolge nennen?
Auf einem guten Weg sind wir im Verkehrsbereich. Da haben wir wirklich eine Menge geschafft.
Im Jahr 2000 haben es die Verkehrsbetriebe allerdings versäumt, den öffentlichen Zuschuss von 75 Millionen Mark für die behindertengerechte Gestaltung der Verkehrsmittel abzurufen.
Das haben wir damals auch schwer kritisiert. Da ist Besserung gelobt worden. Ich gehe davon aus, dass so etwas nicht mehr vorkommen wird.
Also im Verkehrsbereich ist die Entwicklung gut?
Ja. Bei der S-Bahn sind schon zwei Drittel der Bahnhöfe durch Aufzüge oder Rampen zugänglich. Bei der U-Bahn ist es bisher zwar nur ein Drittel, aber trotzdem sind schon viele Strecken gut benutzbar. Was die Busse angeht, werden die Eindecker bald zu 100 Prozent barrierefrei sein. Der behindertengerechte Doppeldecker wird zurzeit neu entwickelt. Aber es kann natürlich immer passieren, dass sich wegen Geldknappheit das eine oder andere Projekt verzögert.
Wo liegen die Knackpunkte?
Ein ganz großer Bedarf besteht im Baubereich, vor allem bei den Altbauten. Wir wollen hier sukzessive eine Verbesserung erreichen. Das Landesgleichberechtigungsgesetz, das seit drei Jahren existiert, erweist sich da als sehr hilfreich. Über das Gesetz ist zum Beispiel eine Veränderung der Gaststättenverordnung erreicht worden.
Was ist die Folge dieser Verordnung?
Bei einem Konzessionswechsel muss jetzt geprüft werden, ob die Zugänglichkeit und der Einbau einer Behindertentoilette möglich und zumutbar ist. Auch bei Hotelneubauten müssen in Zukunft 10 Prozent der Zimmer barrierefrei zugänglich sein. Die ersten großen Hotels, für die diese Auflagen bestehen, sind bereits im Bau.
Ausgerechnet das weltweit einzigartige Projekt Movado muss dichtmachen. Ist das letzte Wort in der Sache schon gesprochen?
Es sieht nicht gut aus. Ich hoffe aber, dass der Hauptausschuss eine Finanzierungsmöglichkeit findet, die es erlaubt, Movado weiterzubetreiben.
Was würde es für die Behinderten bedeuten, wenn Movado wegfallen würde?
Das wäre außerordentlich bedauerlich. Das Projekt ist Teil der Berliner Behindertenbewegung und seit zehn Jahren mit vielen Veröffentlichungen und Hinweisen aktiv. Die Datenbank wird auch gern von öffentlichen Stellen genutzt. Außerdem macht Movado eine sehr kompetente Bauberatung im Sinne von Barrierefreiheit.
Movado ist gewiss nicht das einzige Projekt, das im Behindertenbereich unter den Sparhammer kommt.
Nein. Gespart wird schon seit Jahren. Die Finanzierung von Selbsthilfeprojekten und Vereinen wird seit Jahren schrittweise zurückgefahren. Jetzt allerdings kommen sehr viel stärkere Einschnitte, die ich noch nicht so kenne. Klar ist aber: Es wird auch andere Projekte treffen, die dann keine Alternative haben.
Interview: PLUTONIA PLARRE
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