: Der Tag der Enttäuschung
Gestern stieg vor dem Landgericht der Prozess gegen den Brandstifter des Scherf-Hauses: Es war kein „Anschlag“, sondern die Tat eines geistig Verwirrten. Eine Verhandlung mit Reue, Vergebung und schönsten Grotesken
Luise Scherf saß im Untergeschoss ihres Hauses in der Rembertistraße am Computer und kümmerte sich zunächst um gar nichts. Erst als die Schreie immer lauter wurden, ging sie durch die Kellertür nach draußen und sah die Flammen im Hochparterre. Dafür und für den Schrecken nach seiner Tat am 20. August vergangenen Jahres entschuldigte sich der Brandstifter Daniel O. gestern in der Verhandlung vor dem Landgericht erneut. Und Luise Scherf, als Zeugin geladen, vergab – auch wenn leicht viel mehr hätte zu Schaden kommen können als nur die Bürgermeister-Tür. Außer ihr war noch eine Person im Haus, Gatte Henning konferierte im Rathaus. Luise Scherf milde: „Es ist o.k.“
Reue, Vergebung, schönste Grotesken und ein von allen Seiten akzeptiertes Urteil – es mutet seltsam an für einen Prozess, der in diesen Zeiten auch als politisches Attentat auf Bürgermeister Henning Scherf (SPD) hätte gesehen werden können. Aber: Es war kein „Anschlag“, es war die Tat eines geistig Verwirrten. Deshalb hatte der 20. August für Daniel O. „auch sein Gutes“, wie der Vorsitzende Richter Axel Fangk gegenüber dem Beschuldigten betonte: „Sie werden jetzt behandelt. Und Sie haben seit der Tat erhebliche Fortschritte gemacht.“
Der 34-jährige Findorffer hatte an jenem Tag Enttäuschendes erlebt. Bei der Post an der Domsheide hatte er ein Einschreiben der Elisabeth-Taylor-Aids-Foundation abgeholt. Drin: eine Absage. Die US-amerikanische Stiftung war nicht an seinem Patent über eine Abrollhilfe für Kondome interessiert. Jeder andere hätte den Frust vielleicht weggesteckt. Daniel O. jedoch leidet seit Ende der Achtziger Jahre an einer Psychose. Oft hörte der intelligente Mann (Abi-Durchschnitt 2,3), der lange in Italien studiert hatte, Stimmen. Oder er glaubte, Frank Zappa habe ihm einen Film gewidmet. O. verwahrloste langsam, trank und nahm Drogen. Seit 1993 war er 19- mal in Behandlung in der Psychatrie im Zentralkrankenhaus Ost. Oft brach er die Behandlung ab, büchste aus, setzte seine Medikamente ab. Auch in der Zeit vor der Tat.
Und so muss der Frust über die Absage eine unbändige, eine irre Wut bei Daniel O. ausgelöst haben. Er ging schnurstracks zum Haus, in dem Scherf in einer Wohngemeinschaft lebt. Richter Fangk: „Kennen Sie Herrn Scherf persönlich?“ – O.: „Ich habe ihm schon mal die Hand geschüttelt“ – „Das hat hier fast jeder schon einmal.“ bemerkt Beisitzer Dirk Harms, trocken: „Sein Sie froh, dass er Sie nicht geküsst hat.“
Dass Daniel O. mit einer gefundenen Bierflasche das Glas in der Tür eingeschlagen und seine Jacke an die Klinke gehängt und per Feuerzeug angezündet hatte, sah zum Glück der Sozialarbeiter Alexander Q., der in der Nähe arbeitete. „Ich dachte, der Mann wollte das Feuer löschen“, sagte der Zeuge Q. Der Brandstifter torkelte leicht, sah verwirrt aus, murmelte sowas wie „scheiß Palästinenser“ – und Q. glaubte, das Scherfsche Haus sei ein Wohnheim für psychisch Kranke. Vollends verwirrt war Q., als aus dem Tiefgeschoss eine Frau herauskam und sagte: „Was ist denn hier los? Ich bin Luise Scherf.“ Q., ebenfalls sehr trocken: „Da dachte ich, ich bin im falschen Film.“
Aber er ließ sich nicht kirre machen und löschte mit Kollegen das Feuer. Die Flammen hatten schon zwei Meter gelodert. In der Verwirrung entwischte der verwirrte O., der nach der Tat „Erleichterung“ verspürte. Er hatte in seiner Blendung „die Obrigkeit, die Politik“ gemeint, „den Bürgermeister, nicht Herrn Scherf persönlich“, wie er zugab. „Erst hinterher wurde mir klar, was hätte passieren können.“
Vielleicht hätte noch viel mehr passieren können, wenn O. nicht am Tatort die zerrissenen Schnipsel eines Briefes hinterlassen hätte. Darauf seine Adresse. So kam die Polizei dahinter, dass O. über Hamburg zu seiner Oma nach Münster geflüchtet war. Dort wurde er gestellt. Seit zehn Monaten hält er sich in der Forensik im ZKH Ost auf.
Die Zeit muss ihm gut getan haben. Gestern saß ein gefestigter Daniel O. im Gerichtssaal. Auf schwere Brandstiftung steht eine Strafe von bis zu 15 Jahren Gefängnis. Die wird nicht auf O. angewendet werden können. „Die Tat hat gezeigt, dass Sie ohne fachkundige Hilfe nicht zurechtkommen“, sagte der Richter. O.s Behandlung sei noch nicht abgeschlossen, „wahrscheinlich wird sie nie abgeschlossen werden.“ Deshalb verfügte Fangk in seinem Urteil, dass O. demnächst stationär im ZKH Ost behandelt werden soll, um eines Tages vielleicht im betreuten Wohnen unterzukommen. Aber, so Fangk, das werde „nicht holterdipolter“ gehen. Gleichzeitig gibt es harte Auflagen, falls O. gegen die Bewährungsauflagen verstößt. Fangk: „Schon dass er die Medikamente absetzt, reicht aus, wieder Unterbringung anzuordnen.“ Aber es war klar, dass sich der Richter das nicht wünschte. Ja, O. sei ein Wackelkandidat, aber mit Tendenz zur Besserung. Ende gut, vielleicht alles gut – auch, wenn es gegen den Bürgermeister ging. Fangk zum Schluss, mit Emphase: „Ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Kai Schöneberg
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