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Ein Modellprojekt für Gentests

Krankenkasse und Humangenetisches Institut in Hannover führen erstmals eine molekulargenetische Reihenuntersuchung durch. Der angebotene Gentest für die Eisenspeicherkrankheit sei ein Einfallstor für Bevölkerungs-Screenings, warnen Kritiker

10.000 Testpersonen seien die „notwendige Größenordnung“ für das Projekt„Ein Screening für Hämochromatose führt zu vielen gesunden ,Kranken‘“

von KLAUS-PETER GÖRLITZER

Ingo Kailuweit ist Vorstandsvorsitzender der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH), Jörg Schmidtke leitet das Humangenetische Institut der Medizinischen Hochschule Hannover. Den Kaufmann und den Professor verbinden gemeinsame Interessen: Sie wollen der Öffentlichkeit die „Chancen der Humangenetik in der Medizin verdeutlichen“ und den ersten Massengentest in Deutschland etablieren. Zu diesem Zweck haben sie Anfang 2001 den Modellversuch „Hämochromatose-Screening“ (Reihenuntersuchung) initiiert, der Ende dieses Jahres abgeschlossen werden soll.

Zur Teilnahme motivieren sollten diverse Artikel über das „bislang einzigartige“ Projekt, die in der Mitgliederzeitschrift KKH-Journal erschienen. Darin wurden die 2,2 Millionen KKH-Versicherten wiederholt gewarnt vor „häufigen Folgen der Eisenspeicherkrankheit“ (Hämochromatose), etwa Herzschwäche, Leberzirrhose, Leberkrebs, Potenzstörungen, Diabetes oder Nierenversagen. „Die wichtigste zur Hämochromatose führende Veränderung des Erbmaterials“, schreibt die KKH, könne „mittels eines neuentwickeltenTests festgestellt“ werden.

„Ein negatives Testergebnis“, verheißt die KKH, „gibt Ihnen eine hohe Sicherheit, dass Sie nicht zu den Anlageträgern für Hämochromatose gehören. Sollte das Testergebnis dagegen positiv sein, was statistisch gesehen unter vierhundert Proben nur einmal zu erwarten ist, haben Sie die Möglichkeit, durch regelmäßige Blutspenden die Ausbildung klinischer Symptome wirksam zu verhindern und damit einen wichtigen Erhalt zum Beitrag Ihrer Gesundheit zu leisten.“

Die Versuchsteilnahme sei freiwillig und gratis, die KKH steuere rund 50.000 Euro bei, die erheblich höheren Kosten für Personal und wissenschaftliche Auswertung an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) übernehmen ungefragt die SteuerzahlerInnen.

Vermutungen, sein Unternehmen betreibe einfach nur „Marketing“ oder „Jagd nach neuen Kunden“, weist Kailuweit zurück. Der KKH-Chef hat erklärtermaßen die gesamte Bevölkerung im Blick. Sollte das „Projekt erfolgreich verlaufen“, versicherte Kailuweit, werde sich die KKH dafür einsetzen, das Hämochromatose-Screening in den regulären Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufzunehmen. Die Entscheidung darüber obliegt dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Würde er grünes Licht geben, schüfe er einen Präzedenzfall: Es wäre die erste molekulargenetische Reihenuntersuchung, die in Deutschland von der Solidargemeinschaft der Versicherten finanziert würde.

Wie teuer ein Hämochromatose-Screening tatsächlich ist, welche Testverfahren am zuverlässigsten sind und wie hoch die Mitmachbereitschaft der Versicherten ist, soll der Modellversuch ermitteln. Die vollständige Auswertung steht zwar noch aus, ein wichtiges Ergebnis zeichnet sich aber bereits ab: Ihr zentrales Ziel, nämlich „Akzeptanz“ für die molekulargenetische Reihenuntersuchung wissenschaftlich belegen zu können, werden die Initiatoren trotz aller Öffentlichkeitsarbeit deutlich verfehlen. 10.000 Testpersonen seien die „notwendige Größenordnung“ für das Projekt, betonte die KKH beim Start. Die Zahl sollte bis Ende 2001 erreicht sein.

Heute, ein halbes Jahr vor Abschluss des Versuchs, ist man vom selbst gesteckten Ziel noch immer weit entfernt: Rund 6.000 Menschen hätten bisher auf den KKH-Aufruf reagiert und Informationen, Teststreifen und Einwilligungsvordrucke beim MHH-Humangenetik-Institut angefordert, bilanziert Professor Manfred Stuhrmann-Spangenberg, Institutskollege von Schmidtke und wissenschaftlicher Leiter des Modellversuchs.

Interesse bedeute jedoch nicht unbedingt Beteiligung: Wie viele der angeschriebenen InteressentInnen sich anschließend tatsächlich Blut vom Hausarzt abnehmen und die Probe zwecks molekulargenetischer Analyse nach Hannover schicken ließen, ist noch ein kleines Geheimnis. Konkretes über Zahl und Motive von Teilnehmern und Verweigerern will Stuhrmann-Spangenberg jedenfalls erst im Abschlussbericht verraten, der Ende 2002 fertig sein soll.

Bis dahin kann über die Gründe der offenbar geringen Akzeptanz nur spekuliert werden. Vielleicht trifft ja zu, was Modellversuch-Mitinitiator Schmidtke in seinem 1997 veröffentlichten „Humangenetischen Ratgeber – Vererbung und Ererbtes“ schrieb: „Das Interesse an einem Gentest ist zunächst groß, vor allem dann, wenn er von Ärzten (berufsmäßig wohlmeinenden Menschen) vorgeschlagen wird. Die Teilnahme an solchen Tests ist dann aber um so niedriger, je umfassender er erläutert wird.“

Eine qualifizierte genetische Beratung bereits vor der Testung, die auch die Europäische Gesellschaft für Humangenetik in ihren Screening-Leitlinien fordert, ist beim Hämochromatose-Projekt zwar nicht als Regelangebot vorgesehen. Aber wer den „Aufklärungsbogen“ und das zweiseitige „Informationsblatt“ zum Modellversuch sehr aufmerksam liest, erhält zumindest eine kleine Ahnung von zentralen wissenschaftlichen Unwägbarkeiten, die im KKH-Journal chronisch ausgeblendet wurden.

„Es ist zur Zeit noch unklar“, heißt es im MHH-Informationsblatt, „wie hoch der Anteil der reinerbigen Anlageträger ist, der tatsächlich erkrankt.“ Detaillierte Erläuterungen zu dieser „Unklarheit“ fehlen im Aufklärungsbogen allerdings ebenso wie ein Hinweis auf die Tatsache, dass auch reinerbige AnlageträgerInnen nur selten schwer erkranken und viele überhaupt keine Symptome zeigen.

Das wissen natürlich auch die Professoren Schmidtke und Stuhrmann-Spangenberg. Noch im Dezember haben sie im Fachblatt Medizinische Genetik auf eine imJahr 2000 veröffentlichte Studie hingewiesen, der zufolge nur bei jedem zwanzigsten reinerbigen Anlageträger irgendwann eine schwere Lebererkrankung festgestellt wurde. Wie hoch die Erkrankungszahlen seien, hänge zudem entscheidend davon ab, wie man den Begriff „Hämochromatose“ überhaupt definiere. Bezeichne man auch solche AnlageträgerInnen als „krank“, die zwar keine klinischen Symptome, aber pathologische (überhöhte) Eisenwerte aufwiesen, so müsse mehr als jeder zweite reinerbige Anlageträger als Hämochromatose-Patient gelten. Dass solche wissenschaftlichen Unklarheiten zu falschen Therapieentscheidungen und lebenslanger Verunsicherung der Betroffenen führen können, verschweigen die Humangenetiker in der Fachzeitschrift nicht: „In der Folge eines positiven Testergebnisses werden so manche Menschen, die auch ohne Prophylaxe gesund blieben, eine Aderlassbehandlung durchführen.“

„Ein Screening auf Hämochromatose führt zu vielen gesunden ,Kranken‘“, kritisiert die Ärztin Marina Steindor, die bis 1998 als gesundheitspolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion agierte. „Eine derartige Entwicklung“, schreibt Steindor in einer Analyse für die Zeitschrift Arbeit und Sozialpolitik, „höhlt nicht nur den Solidargedanken aus, sondern auch die Finanzierungslogik der gesetzlichen Krankenkassen.“ Denn gesunde „Kranke“ könnten künftig als Risikopersonen gelten, die vom Gesetzgeber dazu angehalten oder gar verpflichtet werden, vorbeugende Therapien und Diagnostik in Anspruch zu nehmen. Käme es so weit, „kämen die gesetzlichen Krankenkassen bald an die Grenzen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit“, unkt die Ärztin Steindor.

Solche Bedenken sind auch der vom Bundestag einberufenen Medizinethik-Enquetekommission geläufig. In ihrem Abschlussbericht, der Mitte Mai veröffentlicht wurde, bezeichnet die Kommission genetische Reihenuntersuchungen in der Gesamtbevölkerung oder in spezifischen Bevölkerungsgruppen als „äußerst problematisch“. Menschen mit „einem erhöhten genetischen Risiko“ könnten ebenso sozial stigmatisiert werden wie solche, die die Teilnahme an formal freiwilligen Screening-Programmen verweigerten. Konkret drohe Angehörigen von „Risikogruppen“ zum Beispiel der Ausschluss von Arbeitsverhältnissen oder die Verweigerung privater Kranken- und Lebensversicherungen.

Trotz solcher Risiken plädiert die aus PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen zusammengesetzte Enquetekommission keineswegs dafür, Massengentests zu verbieten. Sie empfiehlt, ein Gendiagnostikgesetz zu schaffen, das Gen-Screenings unter Auflagen erlaubt. Verlangt wird, dass die Reihenuntersuchungen „präventive oder therapeutische Optionen“ für die freiwilligen TeilnehmerInnen anstreben, von ÄrztInnen veranlasst und von einer zentralen Kommission gebilligt werden.

Nachdenkliche Kommissionsmitglieder wie Wolfgang Wodarg (SPD), Hubert Hüppe (CDU) und Monika Knoche (Bündnis 90/Die Grünen) haben wiederholt gewarnt, das Hämochromatose-Modellprojekt könne sich als „Türöffner“ für routinemäßige Massengentests erweisen. Sie werden wohl spätestens dann Recht bekommen, wenn in der nächsten Legislaturperiode tatsächlich Gesetz werden sollte, was die Enquetekommission empfiehlt.

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