Das gute mittlere Erinnern

„Vergangenheitsbewältigung“ ist zu einer weltweit operierenden Industrie geworden. Deutschland ist dabei der Marktführer – wie stets aufs Neue die Diskussionen um Nazi- und Stasiverstrickungen beweisen

von TIMOTHY GARTON ASH

Deutschland hat sich als einziges Land mit der Hinterlassenschaft nicht nur einer, sondern zweier Diktaturen auseinander gesetzt. Besonders erfolgreich ist die deutsche Vergangenheitsbewältigungsbranche auf den traditionellen Exportmärkten Deutschlands, vor allem in Mittel- und Osteuropa. Wie sehen die DIN-Standards – die „Deutschen Industrie-Normen“ – im Bereich der Geschichtsaufarbeitung aus?

Leicht lassen sich acht verschiedene Ziele ausmachen, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt werden: 1. Wahrheit; 2. Gerechtigkeit; 3. Anerkennung von Verantwortung oder Schuld; 4. Verhinderung erneuter Menschenrechtsverletzungen; 5. Konsolidierung demokratischer Verhältnisse; 6. Heilung; 7. Reinigung; 8. Versöhnung. Jedes dieser Ziele bringt seine eigenen Diskurse mit sich, einen Komplex von Kategorien und Unterkategorien. Zusammengefasst könnte man sagen, der Umgang mit der Vergangenheit beginnt mit Kategorien aus dem Reich der Pathologie, um bei denen der Theologie zu enden.

Diese irritierende Fülle von Zielen und Kriterien ist jedoch nur das halbe Problem. Wir haben nicht nur acht Ziele, sondern auch viele verschiedene Wege, auf denen sie möglicherweise zu erreichen sind. Leicht lassen sich zehn Arten des Umgangs oder der Auseinandersetzung mit einer schwierigen Vergangenheit unterscheiden.

Sie lassen sich so beschreiben: 1. Gerichtsverfahren; 2. Säuberungen, heute freundlicher auch Lustration genannt; 3. Wahrheitskommissionen; 4. Öffnung der Archive – namentlich die Offenlegung von Akten der Geheimpolizei, wie dies in Ostdeutschland geschehen ist, aber auch anderer Archive; anschließend gilt dann – in Abwandlung einer berühmten Parole aus Chinas kommunistischer Vergangenheit: Lasst hundert Dokumentationen blühen; 5. Kriminalisierung der Leugnung – das bekannteste Beispiel ist das gesetzliche Verbot einer Leugnung des Holocaust; 6. Gedenk- und Erinnerungsarbeit; 7. symbolische Sühneakte oder öffentliche Entschuldigungen – ein klassisches, sehr bewegendes Beispiel war der Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Denkmal der Helden des Warschauer-Ghetto-Aufstands bei seinem Besuch in Warschau 1970; 8. symbolische Versöhnungsakte – Bundeskanzler Helmut Kohl wurde berühmt für das Foto, das ihn und den französischen Präsidenten François Mitterrand zeigt, wie sie sich über den Gräbern von Verdun etwas verlegen bei der Hand halten; 9. Entschädigung oder Reparation, 10. schließlich und vielleicht am schwierigsten: der wichtige Bereich des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der Behebung struktureller Missstände, die aus einer überwundenen Diktatur herrühren. In Südafrika beispielsweise haben Kritiker der Wahrheitskommission gesagt: Wozu das alles, wenn sich an dem Grundübel der Apartheid, der tief verwurzelten wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen Schwarz und Weiß, nichts ändert?

Ein weiteres Problem bei fast allen Diskussionen über dieses nicht besonders klar definierte Geschäft der Geschichtsaufarbeitung besteht darin, dass die verschiedenen Beiträge oft ziemlich unbekümmert zwischen diesen acht Zielen oder Kriterien und den zehn Wegen, die zu ihnen führen, hin und her springen. Außerdem gibt es für jedes Land, das sich auf diesen Prozess einlässt, zwei weitere Variablen von erheblicher Bedeutung.

Die erste ergibt sich aus der Beschaffenheit des vorangegangenen Regimes. In Lateinamerika ging die Unterdrückung von einer relativ kleinen Gruppe von Tätern aus, die eine relativ kleine Gruppe von Opfern mit Mord und Folter verfolgten. In den meisten kommunistisch regierten Staaten Osteuropas dagegen war die Unterdrückung gemäßigter, dafür aber viel breiter gestreut.

Eine zweite wichtige Variable ergibt sich daraus, wie das nachfolgende politische System beschaffen ist und welche Einschränkungen sich daraus möglicherweise für die Aufarbeitung der Vergangenheit ergeben. Vor allem in Ländern, die einen „vertraglich geregelten“ oder „ausgehandelten“ Umbruch hinter sich haben, gibt es oft Absprachen oder Garantien, die vor allem die juristischen Möglichkeiten einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einschränken.

Wenn wir nun versuchen, ein Schema der „vergleichenden Vergangenheitsbewältigungsforschung“ aufzustellen – was ergibt sich? Wir haben es mit wenigstens acht verschiedenen Kriterien zu tun, nach denen wir mindestens zehn verschiedene Formen des Umgangs mit der Vergangenheit in wenigstens dreißig verschiedenen Ländern beurteilen sollen. Wie man sieht, ergibt sich daraus ein Schema mit nicht weniger als 2.400 Feldern! Mir scheint allerdings angesichts dieses Schemas, dass sich systematisch verallgemeinernde Feststellungen in diesen Fragen kaum treffen lassen.

Dennoch ist es sinnvoll, zwei allgemeinen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung genauer nachzugehen. Die erste lautet: Gibt es, wie heute oft behauptet wird, einen klaren Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass sich ein Land auf diese oder jene Weise mit der eigenen schwierigen Vergangenheit beschäftigt, und der Konsolidierung von freiheitlich-demokratischen Verhältnissen?

Die Antwort fällt weniger eindeutig aus, als man erwarten könnte. Und selbst wenn diese Korrelation ziemlich hoch ist, darf man deshalb noch nicht annehmen, die Geschichtsaufarbeitung sei die Ursache der demokratischen Konsolidierung oder zumindest ein Faktor, der zu ihr beigetragen habe. Die Verwechslung von Korrelation und Kausalität ist einer der ältesten Fehlschlüsse in Geschichtsschreibung und politischer Wissenschaft. Mit guten Gründen könnte man nämlich auch behaupten, dass die Kausalität gerade in der umgekehrten Richtung wirkt.

Die systematische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wäre dann nicht Ursache, sondern Symptom einer demokratischen Konsolidierung. In Wahrheit ist sie wahrscheinlich beides: Ursache und Folge. Mit einiger Sicherheit lässt sich wohl nur dies behaupten: Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Länder, die sich systematisch mit ihrer schwierigen Vergangenheit auseinander setzen, zugleich auch gefestigte oder zumindest sich festigende Demokratien sind.

Die zweite allgemeine Frage, auf die ich hier eingehen möchte, ist vielleicht die fundamentalste von allen: Soll man erinnern oder vergessen? Dabei muss man sich klar machen, dass die klassische Antwort auf diese Frage zumindest in der westlichen Zivilisation mehr als zweitausend Jahre lang – genauer gesagt von 403 v. Chr., als der Peloponnesische Krieg mit der Athener Amnestie abgeschlossen wurde, bis zu Winston Churchills berühmter Europarede von 1946 stets gelautet hatte: Vergessen!

Fünfzig Jahre später lautet die Antwort, die die so genannte internationale Gemeinschaft in vergleichbaren Situationen immer wieder gibt: Erinnern, erinnern! Im Folgenden möchte ich zeigen, dass ein großer Teil der Ratschläge, die man Ländern mit schwieriger Vergangenheit erteilt – und ein großer Teil der Literatur zu diesem Thema – mit einer unbefriedigenden, manchmal geradezu manichäischen Dichotomie zwischen Erinnern und Vergessen operiert und dass dies vor allem unter zwei Aspekten unzureichend bleibt.

Unzureichend bleibt diese Dichotomie zunächst einmal in deskriptiver, analytischer Hinsicht – als Beschreibung, wie das Gedächtnis wirklich funktioniert. Während ich meine eigene Stasiakte studierte und dann mit den Informanten, die über mich berichtet hatten, mit den Offizieren, die für mich zuständig gewesen waren, und auch mit anderen sprach, die sich im Netz der Stasi verfangen hatten, wurde mir schmerzlich klar, wie unzureichend die Dichotomie zwischen Erinnern und Vergessen ist.

In Wirklichkeit haben wir es mit einem Prozess des kontinuierlichen Wiedererinnerns, des beständigen Umschreibens jener Geschichte zu tun, die wir „mein Leben“ nennen. Man sagt, jeder von uns habe einen Geschichtsschreiber im Kopf. Aber in Wirklichkeit ist dieser Geschichtsschreiber ein Romancier, der ständig dabei ist, die Geschichte unseres Lebens umzuschreiben und sie uns auf diese Weise bequemer, erträglicher zu machen.

Man denke an das bekannte Wort von Friedrich Nietzsche: „ ‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘, sagt mein Stolz. […] Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ In akuten Fällen hat man dies – in Anlehnung an die „Alzheimersche“ – die „Waldheimersche Krankheit“ genannt. Ihr wichtigstes System ist forciertes, selektives Vergessen.

Zum anderen erscheint mir die Dichotomie zwischen Erinnern und Vergessen auch wenig hilfreich, wenn es um Handlungsempfehlungen geht. Mir scheint, das wünschenswerte Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann nicht, wie man heutzutage vielfach annimmt, einfach „Erinnern“ sein, aber ebenso wenig einfach „Vergessen“.

Das Spektrum, mit dem wir es zu tun haben, reicht von dem Extrempunkt der Amnesie und Amnestie auf der einen Seite bis zum entgegengesetzten Extrem, wie es uns manchmal im Zusammenhang mit dem Holocaust begegnet. Bei einem Individuum könnte man dieses zwanghafte Übererinnern als Trauma oder als Wahn bezeichnen.

Mir geht es hier vor allem darum, dass es zwischen diesen beiden Extremen einen Mittelweg gibt, der mir der wünschenswerte zu sein scheint. Ich ziehe den Ausdruck „Mesomnesie“ vor – mittleres Erinnern. Besonders wichtig für den Umgang mit der Vergangenheit wird dieser Begriff dort, wo es um das „Aussprechen der Wahrheit“ geht – ob in Wahrheitskommissionen, in Prozessen oder Ausstellungen oder durch die Öffnung der Archive.

Das Ziel dieser offiziell geförderten oder befürworteten Bemühungen um das Herausfinden und die Verlautbarung der Wahrheit lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Erkenntnis und Anerkennung. Es geht darum, Tatsachen zu klären und dann Erkenntnis zu gewinnen – das heißt Zusammenhänge zwischen den Tatsachen herzustellen.

Es geht aber auch darum – und dies ist sehr wichtig –, öffentlich und offiziell anzuerkennen, was geschehen ist. Es geht um die Anerkennung des Geschehens durch die Täter oder den Staat, in dem die Verbrechen geschehen sind. Und es geht um die Anerkennung, die den Opfern und ihren überlebenden Angehörigen gebührt.

Es gibt ein Gebiet, auf dem vollständige Versöhnung gar nicht wünschenswert ist – die Geschichtsschreibung. Das Letzte, was wir uns als Historiker wünschen, ist eine durch Übereinkunft erzielte und dann mit Alleinvertretungsanspruch auftretende Version der Vergangenheit.

Wahrheit kann sicherlich einen Beitrag zur Versöhnung leisten, aber es kann auch geschehen, dass die Versöhnung zur Gefahr für die Wahrheit wird. Geschichtsschreibung, die Suche nach der niemals vollständig zu ermittelnden historischen Wahrheit, kann es aber ohne den ständigen Widerstreit unterschiedlicher Deutungen nicht geben. Eines lässt sich jedoch vielleicht durch Übereinkunft erreichen: eine Beschreibung der Faktengrundlage, auf die sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dann bezieht.

Ein zweiter wünschenswerter Effekt dieses Prozesses besteht darin, dass zwischen Vergangenheit und Gegenwart eine klare Grenze gezogen wird. Man könnte glauben, diese Grenze sei eine Selbstverständlichkeit. Aber in Ländern, die von ihrer Geschichte wie von einem Gespenst heimgesucht werden, verschwindet sie.

Auf dem Balkan waren während der Neunzigerjahre Vergangenheit und Gegenwart nicht in zeitlicher Abfolge nacheinander, sondern nebeneinander angeordnet, nicht diachron, sondern synchron. Die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart existiert einfach nicht. Die Vergangenheit ist lebendig und explosiv.

Für Historiker enthalten solche Beobachtungen eine Paradoxie. Oft heißt es doch gerade, ihr höchstes Ziel sei es, die „Vergangenheit lebendig werden zu lassen“. Nun, die Vergangenheit ist nirgendwo lebendiger als an Orten wie dem Balkan oder Nordirland. Aber sie lebt dort in einer gespenstischen Verzerrung. Eine „Verarbeitung“ der Vergangenheit nach den hier skizzierten Verfahren würde dazu führen, dass die fehlende Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart wiederhergestellt wird.

Es ist das, was wir im Englischen to put it behind us nennen: „etwas hinter sich bringen“. Damit ist nicht das gemeint, was man im Deutschen einen „Schlussstrich“ nennt – einen dicken Strich, den man unter die Vergangenheit zieht, um dann nie mehr zurückzublicken. Aber eine Reduktion der Vergangenheit ist mit dem englischen Ausdruck durchaus gemeint: die Gegenwart der Vergangenheit stirbt ab. Die Vergangenheit ist nicht länger gelebte Erfahrung; sie wird zur Geschichte verkleinert.

Allzu häufig vollziehen Länder, die sich von einer schwierigen Vergangenheit lösen, den Übergang von der übermächtigen Gegenwart der Geschichte zu der heute so geläufigen völligen Abwesenheit von Geschichte sehr schnell – den Übergang in jenen ahistorischen Zustand, der für die westlichen Konsumdemokraten typisch ist.

Der polnische Schriftsteller Konstanty Gebert hat einmal gesagt: „Wenn Amerikaner sagen: ‚That’s history‘, dann meinen sie damit: Es ist irrelevant. Wenn wir Osteuropäer sagen: ‚Das ist Geschichte‘, dann meinen wir: Es ist das Wichtigste überhaupt.“

Wenn man nicht aufpasst, gerät man mit einem Schlag und ohne Zwischenstopp vom serbischen in das amerikanische Geschichtsgefühl. Mir scheint, es lässt sich eine idealtypische Abfolge der verschiedenen Phasen dieses Prozesses skizzieren: herausfinden – aufzeichnen – nachdenken – und dann weitergehen.

In keiner dieser Phasen geht es um eine einfache Wahl oder einen simplen Konflikt zwischen Erinnern und Vergessen. Immer haben wir es mit einer komplexen Verwandlung, einer beschleunigten Metamorphose der Erinnerung zu tun. Was am Schluss dieses Vorgangs steht, lässt sich nicht einfach als „Erinnern“ bezeichnen. Wenn wir die Vergangenheit „hinter uns bringen“ und die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart wiederherstellen, dann geht es um eine sehr viel subtilere Mischung aus Erinnern und Vergessen.

Für ein Land, eine Gesellschaft, eine Gruppe oder ein Individuum wird die Auseinandersetzung mit einer schwierigen Vergangenheit zu einer Entdeckungsreise. Diese Reise führt durch stürmische Gewässer zwischen den Felsen der Amnesie und den Klippen der Hypermnesie (Übererinnerung) hindurch. Ihr Ziel sollten jedoch die ruhigeren Gewässer dahinter sein – die Gewässer der Mesomnesie.

TIMOTHY GARTON ASH, Jahrgang 1955, Historiker und Publizist, ist Direktor des Zentrums für Europäische Studien am St. Antony’s College in Oxford. Sein Text wurde von REINHARD KAISER aus dem Englischen übertragen Die vollständige Fassung des Textes ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Transit – Europäische Revue (Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main, 11 Euro) erschienen