: Entfremdung und Verstörung
Anspruchsvolles Werk mit ganz eigenem Klangbild vorzüglich umgesetzt: Olga Neuwirths Musiktheaterstück „Bählamms Fest“ nach Elfriede Jelinek unter der Regie von Vera Nemirova
von REINALD HANKE
Ausgangspunkt von Olga Neuwirths Musiktheaterstück Bählamms Fest – nach einem Text von Leonora Carrington in der Libretto-Fassung von Elfriede Jelinek – ist ein Tabubruch, der zur Grundlage aller Konflikte wird. Der Sohn der älteren Mrs. Carnis, in deren abgelegenen Haus das Stück spielt, ist das Paarungsprodukt ihrer mit einem Hund. Es ist der Werwolf Jeremy. In seiner Naturhaftigkeit muss Jeremy morden, ist andererseits ein hochgradig zivilisiertes Wesen. Seine Figur steht für ein in Schieflage geratenes Verhältnis von Kultur und Natur und vereint beides.
Bühnenbildner Stefan Heyne hat diese Ausgangslage zum Anlass genommen, über ein schrankwandverkleidetes Wohnzimmer einen riesigen Prospekt zu hängen, der verschweißte Fleisch- und Wurstpackungen im Kühlregal zeigt. Ein Verweis auf den entfremdeten, pervertierten Umgang mit der Natur, hier mit Tieren, wie wir kulturgeprägten Wesen ihn pflegen. Diese Bühnenlösung wirkt nicht nur äußerst zwingend, sie ist auch von überwältigender Wirkung.
Olga Neuwirths Musik setzt genau an dieser Entfremdung zwischen des Menschen Kultur und Natur an. Die menschliche Stimme wird in ihrer Partitur durch vielfältige elektroakustische Veränderung zu einem künstlichen Klang umgeformt, dessen menschliche Herkunft schließlich kaum mehr wahrzunehmen ist. Wichtigstes elektronisches Instrument ist ein historisches Theremin-Vox, das durch präzise Handbewegungen in einem elektrischen Feld zwischen zwei Antennen ein seltsam tierisch wirkendes Jaulen produziert. Aber auch andere live-elektronische Klangumformungsprozesse sowie Tonbandzuspielungen und Instrumentalsätze und deren gegenseitige Durchdringungen bilden eine einzigartige Klangwelt.
Diese wirkt zwar einerseits sehr fremdartig, ist aber andererseits von höchster luzider Klarheit und führt zu einer enormen Klangvielfalt zwischen betörender Klangschönheit und verstörender Herbheit. Und zu all dem blitzt auch immer wieder beim Gebrauch von Kinderinstrumenten oder in kurzen Anspielungen an die Musikgeschichte ein unverkennbar österreichischer musikalischer Humor durch.
Dem souverän im Orchestergraben koordinierenden Patrick Davin ist es zu verdanken, dass dies alles für den Hörer wahrnehmbar wurde. Sein gut präpariertes Orchester und ein vorzügliches Gesangsensemble führte er mit lockerer Hand durch die wilde Partitur.
Bereits 1994 hat Olga Neuwirth beschrieben, was sie in Bählamms Fest konsequent in eine künstlerische Form gegossen hat, die nun von Regisseurin Vera Nemirova und ihrem Team kongenial für die Bühne umgesetzt wurde: „Eigentlich möchte ich nur eine elastische Spannung zwischen kultivierter Künstlichkeit und Ultrarealismus, zwischen Realität und Traum, Lachen und Schrecken mit Spontaneität aufrecht erhalten, in der man erkennt, dass uns die moderne Welt gleichermaßen fremd wie vertraut ist.“
Solcherlei Kunst mag, wie nun in Hamburg zu erleben war, anstrengend sein, gleichwohl zeigt sie in ihrer gesellschaftszugewandten, auf die Verantwortung des Menschen in unserer Gesellschaft abzielenden Grundhaltung eine ethisch-künstlerische Grundposition, die in der Musik äußerst selten ist. Dies verleiht Neuwirths Werk, unabhängig davon, ob man einen Zugang zu ihrer hoch komplexen Musiksprache findet, einen fast einzigartigen Rang in der Musik unserer Zeit. Hier nimmt die 1968 geborene Grazerin bereits eine Position ein, die vor ihr, bei vergleichbarer künstlerischer Potenz, nur Luigi Nono inne hatte.
Hamburgs Staatsoper ist deshalb nicht nur zur Auswahl des vorzüglichen Leitungsteams dieser Produktion zu gratulieren, sondern auch zum Mut, dieses anspruchsvolle Stück auf den Spielplan zu setzen.
nächste Aufführungen: Sonnabend, Sonntag, 25., 26., 29. + 30.6., 20 Uhr, Schauspielhaus
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