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Weg mit dem CSD!

Der Christopher Street Day ist zu einer schwullesbischen Leistungsschau verkommen. Um eine weitere Liberalisierung der Gesellschaft muss anderswo gekämpft werden

Die Provinz dagegen ist für Schwule und Lesben auch heute noch eine einzige No-go-Area

Nennen wir es einmal „das Zittauer Argument“: die Geschichte eines jungen Mannes (oder auch einer jungen Frau), der (die) an der tschechisch-polnischen Grenze in spießerhaften Verhältnissen gezwungen ist, sein (ihr) Coming-out unter höchst konspirativen Verhältnissen zu entwickeln. In einer Gegend, wo Glatzköpfe auf Schulhöfen und Bahnhofsstraßen den rüden Mackerton angeben, ist es nicht leicht, ein schwules (oder lesbisches) Leben zu beginnen. Liebe? Eine klandestine Angelegenheit. Gewiss. Und wer liebt schon gerne, wenn alle Welt um einen herum dieses Begehren für igitt hält und aggressiv abwehrt?

Für Menschen wie ihn (oder sie), leben sie nun im besagten Zittau, Bad Reichenhall, auf Usedom, in der Lüneburger Heide oder in sonst wie erdrückend heterosexuellen Verhältnissen, wurden quasi die Paraden zum Christopher Street Day erfunden – so heißt es seit Jahren. Dort träfen sie hunderttausende von anderen Homosexuellen, die wie sie der Enge ihrer Alltagsumstände fliehen konnten: Wie schön, ich bin nicht allein! Mit dem Argument, schon die Präsenz einer „Tagesschau“-zitierfähigen Menschenmasse von beinahe siebenstelliger Größe wirke befreiend als ein Signal des Aufbruchs, wird seit Zeiten die Behauptung aufrechterhalten, schwullesbische Umzüge im Juni seien außerordentlich politisch. Doch das stimmt nicht.

Was heute in Berlin stattfindet, firmiert zwar unter dem Motto „Stolz auf das Erreichte. Hungrig nach mehr!“ Hinter dieser Parole jedoch verbirgt sich kaum mehr als eine Homo-Love-Parade: ohne politischen Sinn und Verstand, aber mit viel sexuellem Flair. Wieder wird viel homosexuell inspirierter Narzissmus gezeigt werden, viel muskuläre Selbstverliebtheit, viele Männer- und Frauenbilder, die mehr als lediglich Sexuelles artikulieren – nämlich Sexistisches. Das Körperideal der heutigen Homosexuellen erinnert mehr und mehr an die Plastiken Arno Brekers – und immer weniger an die lebensnahen Figuren Auguste Rodins. Und dieses „Schöner ficken“ soll Politik sein?

Tatsächlich hat diese Form homosexueller Selbstpräsentation nichts, gar nichts mehr zu tun mit politischen Anspruch, für den das Kürzel CSD einmal stand. Zur Erinnerung: Ende Juni 1969, wenige Wochen vor dem Woodstock-Festival, als die weiße amerikanische Jugend ihren Sommer der Liebe genoss, hatten einige Tunten in einer New Yorker Kneipe von den dauernden Polizeirazzien die Schnauzen voll. In einer nächtlichen Schlacht mit der (korrupten) Polizei wehrten sie sich gegen deren Erpressungsversuche: Die Cops drohten, sie festzunehmen, wenn sie nicht zahlten – denn Homosexualität war zwar nicht verboten, aber verpönt.

Diese militante Schlacht markiert den Beginn der modernen Homosexuellenbewegung: Politik, so war die Lehre, war nicht mehr allein zu machen über das gepflegte Kaminzimmergespräch, über Lobbyismus im Geheimen – sondern in direkter Konfrontation mit der Öffentlichkeit. Das Wort schwul avancierte zur Ehren- und Kampfvokabel, der Begriff homophil zum sprachlichen Makel in eigener Sache: Als blöd galt nur noch, wer sich weiterhin verbarg.

Diese Strategie zeigte beachtlichen Erfolg. Ende der Achtzigerjahre spätestens war eine Generation von Homosexuellen herangewachsen, die nicht mehr die Narben der Kriminalisierung und Verfolgung trugen – sie wussten kaum mehr etwas von Rosa Winkel, vom Paragrafen 175, der noch bis Ende der Sechzigerjahre in seiner Nazifassung Geltung hatte. Nun begann so etwas wie eine verqueere Spaßkultur zu dominieren: Ist doch egal, was die Heteros und Heteras von einem denken – wir haben unsere Infrastruktur, unsere Kneipen, Cafés, Pornokinos, Saunen, Parks und Klappen.

Was an politischem Erfolg noch Anfang der sozialliberalen Ära 1969 in der Bundesrepublik undenkbar schien, wurde zudem wahr: eine spürbare Liberalisierung im Umgang mit Schwulen und Lesben. Unmöglich machte sich öffentlich nun, wer – wie der CSU-Kader Norbert Geis – Homosexuelle als quasipervers verurteilte. Sogar die unionskalkulierte Kampagne gegen den Spitzenkandidaten der Berliner SPD wegen dessen Homosexualität scheiterte schon im Ansatz – weil jener Mann sein Schwulsein kurz vor der als Diffamierung inszenierten Petzaktion bekannt machte. Der homosexuelle Kandidat gewann die Wahlen danach sogar haushoch – ein Sympathieträger ohne klassischen Heterohintergrund, dafür mit unverstecktem Lebensgefährten.

Aber soll das nun die Krönung deutscher Homoemanzipation sein: Klaus Wowereit, Hella von Sinnen, Carsten Flöter, Ulrike Folkerts, Patrick Lindner, Maren Kroymann und Alfred Biolek? Ein Witz aus dem Homoghetto!

Ghetto? Darf man dieses Wort gebrauchen, um die Nischenexistenz Homosexueller zu skizzieren? Man muss. Denn es ist nicht zufällig, dass die Demoroute des Berliner CSD eben nicht zu politisch brisanten Orten führt – dorthin, wo es wichtig wäre, eine Spur zu hinterlassen.

Stattdessen schlendert man den Ku’damm hinunter, am Nobelkaufhaus KaDeWe vorbei – weil dies eben der am ehesten gangbare geografische Minimalnenner Homosexueller zu sein schein. Es heißt, dort erreiche man die größte Öffentlichkeit – aber tatsächlich erreicht man nur die Schwulen und Lesben, die zwischen einem Viertelpfund Olivensalami im Delikatessenladen und einem Caffè latte im Café Einstein noch schnell am Straßenrand zu stehen kommen und sich fragen: Kenne ich in der Menge vielleicht noch jemanden? Später führt der Weg geradewegs an der Siegessäule und am Tiergarten vorbei – wo außer der CSD-Gemeinde selbst niemand steht, den es zu erreichen gälte.

Der CSD ist eine risikolose, jahrmarktähnliche Attraktion für das großstädtische Homoghetto

Das ist schon aus topografischen Gründen verräterisch selbstbezüglich. Denn wo es lohnte, entlangzugehen, findet nichts statt: vom Brandenburger Tor über den Boulevard Unter den Linden bis zum Alexanderplatz, mit einem Schlenker zur Synagoge an der Oranienburger Straße: Das wäre ein Zeichen politischer Emanzipation (und ihrer Bündnisfähigkeit) und auch der Solidarität mit den ersten Betroffenen von Angriffen gegen Minderheiten, den Juden.

CSDs sind jahrmarktähnliche Attraktionen für das Homoghetto und für dessen selbstverliebt-jugendliche Protagonisten. Politisch wäre, über das zu sprechen, was mit dem Demomotto „Hungrig nach mehr“ gemeint sein könnte: dass die Provinz für Schwule und Lesben nach wie eine einzige No-go-Area ist; dass in weiten Teilen der Gesellschaft der Hass auf alles Nichtheterosexuelle noch virulent ist; dass es an Diskriminierung überhaupt noch vieles gibt, was mit keinem dieser CSD-Umzüge aus der Welt zu schaffen ist. Dafür braucht es so etwas wie eine Homobewegung, die einen CSD nur als Karneval nimmt – nicht weniger, nicht mehr.

Der (oben genannte) junge Mann (oder die junge Frau) aus Zittau werden lernen müssen, dass die Großstadt nur Fluchtpunkt sein kann. Für eine bessere Provinz ist mehr nötig, als ein paar Bilder in der „Tagesschau“ bewirken können. JAN FEDDERSEN

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