: Offensive auf zwei Beinen
Frauen, Kinder, Männer: „Lebende Bomben – Das Phänomen Selbstmordattentäter“ (20.45 Uhr, Arte) versucht, die „Geheimwaffe der Armen“ zu erklären. Und scheitert auf hohem Niveau
von SUSANNE AMANN
Mohammed Hussein steht vor dem Fernseher und verfolgt konzentriert die verschwommenen Bilder. „Das ist die Operation, die Papa ausgeführt hat“, sagt er, der vielleicht sechs Jahre alt ist. „Da ist ein Konvoi, der kommt von da drüben.“ Sein Finger bewegt sich über den Fernseher. Der Konvoi explodiert unter seinen Fingern: „Das ist das Auto, das Papa gesprengt hat.“ Er dreht sich stolz um und strahlt in die Kamera.
Libanon, Anfang der 90er-Jahre. Salah Chandour hat sich mit einem Lastwagen in die Luft gesprengt, an der Grenze zu Israel. In dem Glauben, damit sein Land zu befreien. Seine Frau Maha sitzt auf dem Sofa und sagt, dass sie manchmal erschüttert sei über diese Bilder, sie aber trotzdem gerne ansehe. Und dazwischen Mohammed, der nicht begreift, was er sagt, aber trotzdem überzeugt ist.
Es sind die kurzen und unspektakulären Szenen, die in dem Film „Lebende Bomben“ von Serge Gordey und Ilan Ziv immer wieder unterstreichen, welche zwei Fragen die Autoren mit ihrem Film verfolgen. Warum sind Männer und Frauen bereit, ihr Leben für eine politische oder religiöse Sache zu opfern? Und sind Selbstmordattentate die neue Waffe der Armen, eine Waffe, die den Eintritt in eine neue Ära markiert? Für die Antworten haben Gordey und Ziv das Phänomen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgt und nachgezeichnet.
Denn was mit den Anschlägen vom 11. September eine bisher nicht gekannte und nicht vorstellbare Dimension erreicht hat, ist durchaus kein Phänomen, das sich auf die letzten Jahre und die Region des Nahen Ostens beschränkt. Japanische Selbstmordpiloten im Zweiten Weltkrieg oder opferbereite Jungsoldaten im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran – schon immer haben es Regierungen verstanden, zumeist junge Menschen für ihre Ziele zu begeistern. Besonders deutlich wird das in der Schilderung von drei ehemaligen iranischen Kindersoldaten, die erzählen, wie sie sich darum gestritten haben, als Erste durch ein Minenfeld laufen zu dürfen, um es für die nachrückenden Truppen frei zu machen.
Gleichzeitig zeigen Gordey und Ziv aber eine Entwicklung auf, die weiter geht: Es sind nicht mehr Regierungen, die das Opfern des eigenen Lebens fordern, es sind kleine politische oder religiöse Splittergruppen, die immer schneller und immer einfacher Leute rekrutieren können. Dauerte die Ausbildung der so genannten Black Tigers, der Selbstmordeinheit der Tamil Tigers im Bürgerkrieg in Sri Lanka, noch mehrere Monate, werden palästinensische Selbstmordattentäter inzwischen in wenigen Wochen rekrutiert und ausgebildet – eine Rationalisierung des Schreckens. Und es gibt noch einen Unterschied: Anders als in der Vergangenheit werden seit Mitte der 90er-Jahre zivile Opfer nicht nur in Kauf genommen, sondern sind zum Hauptangriffsziel geworden.
Die Dokumentation lebt von der Vorgehensweise der Autoren, ohne viel eigene Kommentierung Augenzeugen und Betroffene zu Wort kommen zu lassen. Ebenso wie islamische Geistliche, Geheimdienstangehörige und Militärs erzählen Angehörige, Ärzte und Psychologen über ihre Erfahrungen und Einschätzungen. Dazu kommen Aufnahmen, die die Autoren in monatelanger Recherche im Iran, im Libanon, in Sri Lanka, Palästina und Israel aufgenommen oder in Archiven gefunden haben. Nicht sensationsheischende, in ihrer Klarheit aber schockierende Bilder von Opfern, Abschiedsvideos von Attentätern und Hamas-interne Aufnahmen – viel von dem Bildmaterial war bisher im deutschen Fernsehen noch nicht zu sehen.
„Das ist ziemlich einmaliges Material, das wir durch zwei wichtige Quellen in Israel und Palästina bekommen haben“, so Serge Gordey über den Film. Das Geheimnis sei aber auch gewesen, dass alle Beteiligten eine unheimlich große Loyalität gegenüber dem Projekt besessen und eigene, nationale Interessen zurückgestellt hätten.
Von den zwei zentralen Fragen des an Informationen dichten Films kann nur eine beantwortet werden: Ja, Selbstmordkommandos sind eine neue Waffe der Armen, die wir – so die Wette von Gordey – „noch in ganz anderen kulturellen Zusammenhängen erleben werden“. Was aber den Einzelnen dazu treibt, sich selbst zu opfern, das können weder die Autoren noch die von ihnen Befragten beantworten. Vielleicht ist die kulturelle Kluft eben nicht zu überbrücken – jedenfalls nicht von einem guten Dokumentarfilm.
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