: Vorschriften aus alten Zeiten
Nicht nur Islamisten kollidieren mit dem westlichen Demokratieverständnis.Das Problem holt auch islamische Reformer und wohlmeinende „Orientalisten“ ein
Eines der häufigsten Klischees über den Islam besagt, er habe seine Fähigkeit zur inneren Reformierung eingebüßt. Für die islamische Welt mag diese Aussage zu einem gewissen Grad stimmen. Für die Muslime, die im Westen leben, sicher nicht. Denn das in der langen gemeinsamen Geschichte von Westen und islamischer Welt einmalige Phänomen, dass Millionen von Muslimen im Westen eine dauerhafte Heimat gefunden haben, stellt für diese Muslime – insbesondere für ihre Repräsentanten und Religionsgelehrten – eine Herausforderung an ihr tradiertes Weltbild dar, die sie durchaus annehmen.
Mit zwei großen Problemen haben sie dabei im Besonderen zu kämpfen: mit der Anpassung der theologischen Konzepte an Demokratie, Säkularismus – also die Weltlichkeit der Gesellschaft – und Rechtsstaatlichkeit zum einen und der Entwicklung eines kritischeren Blickes auf die eigene Geschichte zum anderen. Nur wenn beides gelingt, ist eine Integration auch als Staatsbürger möglich. Das Ringen um Lösungen für diese Aufgaben gestaltet sich allerdings sehr zäh und ist von Rückfällen geprägt.
Eines der theologischen Konzepte, das in der muslimischen Weltsicht besonders tief verwurzelt ist, ist die Einteilung der Welt in ein „Haus des Islam“ und ein „Haus des Krieges“. Dieser Orientierungsrahmen stammt aus der Zeit der islamischen Expansion, die im größten Teil Europas dem Mittelalter entspricht. Für Muslime, die in mehrheitlich muslimischen Ländern leben, gibt es keinen besonderen Grund, diese Vorstellung zu überdenken oder zu modifizieren.
Ganz anders für Muslime im Westen: Da sie genau genommen im „Haus des Krieges“ wohnen, gelten für sie in der Theorie auch die entsprechenden Sonderregelungen – die aber eigentlich ganz andere Umstände zu regeln versucht haben als jene, in denen die Muslime im Westen sich heute wiederfinden. Denn seinerzeit waren diese Konzepte auf ein prinzipiell islamfeindliches „Haus des Krieges“ zugeschnitten. Oftmals können die hier lebenden Muslime ihren Glauben aber sogar freier praktizieren als in ihren Heimat- oder Herkunftsländern. Sie können also mit diesem Konzept in ihrem Alltag wenig anfangen.
Grundsätzlich sind deshalb reformtheologische Arbeiten wie die des Schweizer Islamwissenschaftlers Tariq Ramadan, der sich exakt dieses Problems angenommen hat, für die muslimische Gemeinschaft im Westen von großer Bedeutung; besonders unter jüngeren Muslimen wird Ramadan viel gelesen. Er wirft die alte Zweiteilung der Welt als unbrauchbar über Bord. An ihre Stelle allerdings setzt er eine neue Kategorie: Das „Haus der Schahada“ – also des islamischen Glaubensbekenntnisses.
Ramadan meint damit, dass Muslime im Westen weitgehend frei sind, ihren Glauben in allen Facetten zu bekennen und auszuüben. Als Verhaltensregeln für das Leben in diesem „Haus der Schahada“ leitet er – weil die Freiheit dazu ja gegeben ist – die Pflicht zum sozialen und auf Gerechtigkeit zielenden Leben ab. Explizit schließt er dabei auch die Partizipation am gesellschaftlichen und politischen Leben im Westen ein und versucht so, den Weg zu einer islamischen und einer staatsbürgerlichen Identität zu ebnen, die miteinander in Einklang stehen.
Doch letztlich bleibt die Anpassung dieses Konzepte an die soziale und politische Realität oberflächlich. Denn Ramadan und andere mit ihm vergleichbare Vordenker lassen meist nicht davon ab, die Präsenz von Muslimen im Westen in einen heilsgeschichtlichen Rahmen einzupassen. Schon die Unterscheidung zwischen einem „Haus des Islam“ und einem „Haus der Schahada“ suggeriert, dass das Leben im Westen für Muslime suboptimal ist. Das dahinter stehende Ideal ist ja ein auf die gesamte Welt ausgedehntes „Haus des Islam“. So aber müssen sich die Muslime im Westen wie ein bedauernswerter Außenposten der islamischen Welt vorkommen. Sie bleiben über ihre räumliche Entfernung von ihr definiert – Ramadan und seine Denkrichtung machen es ihnen nicht leichter, sich als Bürger im Westen zu integrieren.
Zudem schreibt Ramadan den islamischen Gelehrten auch im Westen eine Auslegungskompetenz in strittigen Fragen zu, beispielsweise der, unter welchen Bedingungen ein Muslim einen Angriff auf einen anderen Muslim unterstützen kann. Im konkreten Fall hieße das, dass ein islamischer Bundestagsabgeordneter vor einer Abstimmung über einen Bundeswehreinsatz in Afghanistan ein islamisches Gutachten einholen müsste – und um der Fortschreibung der islamischen Tradition willen würde hier das Unabhängigkeitsprinzip von Mandatsträgern beschnitten.
Zu ähnlich problematischen Schlüssen führt auch der unkritische, geradezu orientalistische Blick vieler Muslime auf die islamische Geschichte. Murad Hofmann beispielsweise, zum Islam konvertierter deutscher Exbotschafter in Algerien und Marokko und einer der gefragtesten Dialogpartner in Deutschland, sagte auf der diesjährigen Jahrestagung der muslimischen Geisteswissenschaftler in seinem Referat über Minderheitenrechte im Osmanischen Reich, er wolle für sich nur in Anspruch nehmen, was Muslime in der Geschichte den religiösen Minderheiten stets zu geben bereit gewesen seien. Wer seine Existenz in solchen geschichtlichen „Vorbildern“ spiegelt, tappt aber zwangsläufig in eine von zwei Fallen. Entweder er nimmt für sich selbst eine seiner Religion entspringende Überlegenheit in Anspruch, etwa so, wie es die Osmanen taten. Oder er begreift sich selbst als Mitglied einer religiösen Minderheit, die allerhöchstens respektiert wird, der eine gleichberechtigte Teilhabe am Staatswesen aber nicht erlaubt ist, so wie es für Christen und Juden im Osmanischen Reich galt. Beides widerspricht dem Gleichheitsgedanken und behindert so eine volle, staatsbürgerliche Integration.
Es gibt noch mehr Beispiele für theologische Konzepte oder historische Begebenheiten, die von Muslimen gelegentlich als wegweisend und vorbildhaft präsentiert werden. Die Demokratie sei im islamischen Verfahren der „Schura“, der Beratung, bereits vorweggenommen, wird oft vorgebracht – obwohl in der Geschichte kein Mitglied eines Schura-Gremiums jemals demokratisch gewählt wurde. Oder es wird dem Grundgesetz die Verfassung von Medina aus dem 7. Jahrhundert gegenübergestellt, weil auch sie einen veritablen Grundrechtskatalog enthalte. Dieses Werben hat seine Ursache freilich nicht zuletzt darin, dass für die Mehrheit aller Muslime solche Regelungen wie die Verfassung von Medina, an der der Prophet Mohammed selbst mitgewirkt hat, als zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort richtig gelten.
Es gibt keinen prinzipiellen Grund, daran zu zweifeln, dass der Islam und die Demokratie miteinander in Einklang gebracht werden können. Ein gewisses Maß an Bereitschaft allerdings, die Dinge in ihrem einmaligen historischen Kontext zu verankern, ist unabdingbar, um im Westen anzukommen.
YASSIN MUSHARBASH
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