: Schlicht raffiniert
Kuriose Einblicke in die Geschichte: Gastspiel des Stuttgarter Balletts bei den 28. Hamburger Ballett-Tagen
Sein 40-jähriges Jubiläum feiert das Stuttgarter Ballett in dieser Saison. Grund genug, die befreundete Compagnie, in der Hamburgs Ballettintendant John Neumeier als junger Tänzer seine ersten choreografischen Gehversuche unternahm,wieder einmal an die Elbe einzuladen. Ein stark verjüngtes Tänzerensembel präsentierte sich jetzt bei den Hamburger Ballett-Tagen in der Staatsoper mit einem Programm, das begeisternde und auch kuriose Einblicke in die jüngere Ballettgeschichte bot.
John Cranko hatte von 1961 bis zu seinem Tod 1973 das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm geführt. Von ihm stammte auch das erste Stück The Lady and the Fool, eine Art Aschenputtelgeschichte mit vertauschten Geschlechterrollen aus dem Jahre 1954. Eine Dame der Gesellschaft sammelt einen Clown von der Straße auf, nimmt ihn mit zum Ball, sie verlieben sich und ziehen anschließend auf seine Parkbank.
Ein seltsam anachronistisches Tanzerlebnis, das verschiedene Ballettklassiker zitiert und dabei einen skurrilen Humor entwickelt, dass man am Ende glauben mag, John Cranko sei selbst ein durchtriebener Schelm gewesen, der die Ballettkunst aus ironischem Blickwinkel betrachtet hat. Einige Querdenker und Erneuerer berufen sich ja auch auf ihn als Vorbild.
William Forsythe, früher ebenfalls Tänzer der Stuttgarter Compagnie, ist einer von ihnen. Zwei junge Tänzer des Ensembles, Alicia Amatriain und Friedemann Vogel, tanzten einen Pas de deux aus dessen Choreografie In the Middle, Somewhat Elevated, mit dem Vogel soeben den Erik-Bruhn-Wettbewerk in Toronto gewonnen hat. Laszive Jazz-Elemente mit aufreizenden Beckenstößen, ein Stück, das die Ästhetik der 80er Jahre im besten Sinne auf den Punkt bringt. Die Frau tanzt auf Spitze, extrem virtuos und unglaublich sexy. Man kann sich vorstellen, welche Irritation, und auch Begeisterung Forsythe bei der Premiere 1987 mit diesem Stück für das Ballett der ehrwürdigen Pariser Oper ausgelöst hat.
Ein weiteres überzeugendes Highlight im vielfältigen Repertoire der Stuttgarter: Hans van Manens Kleines Requiem 1996. Der inzwischen über 60-jährige Altmeister des Nederlands Dans Theaters zeigte wieder einmal, wie jung und unverbraucht, schlicht und dennoch raffiniert, humorvoll und dazu bezwingend musikalisch Ballett heute sein kann.
Dagegen ist die 1991 choreografierte Siebte Sinfonie von Leipzigs Ballettchef Uwe Scholz, auch er ein Stuttgarter Sprössling, ein ästhetischer Missgriff. Eine Riege Klon-Diven, die im futuristisch anmutenden Badeanzug-Kostüm mit leicht getürmter Frisur dem Raumschiff Orion entstiegen sein könnten, lässt er zu Beethovens heroischer Musik aufmarschieren. Ihre männlichen Begleiter schleifen sie im Spagat über die Bühne oder tragen sie, mystisch überhöht und steif wie ein Brett, über dem Kopf. Das Ensemble tanzt wie eine Eins, doch wo Forsythe und van Manen Körper und Raum mit ihren Linien durchdringen, fabriziert Scholz bloß hölzerne Baukastenspiele. Marga Wolff
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