: Tausche Aktie gegen Euro
Woher der Euro-Boom und der Aktienverfall kommen und was die beiden Phänomene miteinander zu tun haben
von KATHARINA KOUFEN
Verkehrte Welt: Der Euro steigt, die Kurse an den europäischen Börsen sinken. Der Euro stand gestern Nachmittag kurz vor der lang erwarteten Parität zum Dollar: Ein Euro war über 99 US-Cent wert und damit gut 10 US-Cent teurer als zu Jahresbeginn. Gleichzeitig ist für die Börsenindizes nach unten kein Halt in Sicht. Der Dax, der die Kursentwicklung der wichtigsten deutschen Unternehmen abbildet, lag gestern bei unter 4.000 Punkten. Das ist weniger als halb so viel wie zu den Boomzeiten vor zweieinhalb Jahren.
Verkehrte Welt? Dass der Euro zulegt, ist schnell erklärt: In schlechten Zeiten wie diesen fällt der Börsencommunity plötzlich wieder auf, dass die USA seit Jahren auf Pump leben. Um ihre Importe zu bezahlen, sind sie auf Geld aus dem Ausland angewiesen. Das ist längst bekannt, wird in guten Zeiten aber gerne ignoriert. Nun droht der US-Regierung im laufenden Haushalt das Geld auszugehen, wenn der Kongress nicht bis Ende der Woche einen Kredit über 450 Milliarden Dollar bewilligt. Halb so wild, denn das wird er höchstwahrscheinlich tun – und doch ist für viele Anleger die klamme Lage ein Indiz, dass die Dollar-Zeiten vorbei sein könnten.
Das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung glaubt zudem, dass derzeit große Summen Schwarzgeld in Euro getauscht werden. „Vor der Euroumstellung ist Schwarzgeld, vor allem aus Osteuropa, sicherheitshalber von D-Mark in Dollar gewechselt worden. Jetzt erfolgt der Umtausch in Euro“, erklärt Günter Nerb, Leiter der Konjunkturabteilung. Für den Würzburger Wirtschaftsprofessor und Euroexperten Peter Bofinger spielt außerdem die Bargeldeinführung als „psychologischer Faktor“ eine wichtige Rolle: „Seit der Euro was zum Anfassen ist, wächst das Vertrauen in ihn.“
Verkehrte Welt: Normalerweise müssten parallel zum Eurokurs auch die Kurse an den europäischen Börsen steigen. Gewöhnlich schichten Anleger, die ihre US-Aktien verkaufen, ihr Geld in europäische Aktien um. Doch zur Zeit werden „sichere Häfen“ bevorzugt, meint Nerb. Zum Beispiel Staatsanleihen oder auch verzinste Anleihen bei „ganz sicheren Unternehmen“ wie Siemens oder BASF. Denn seit einiger Zeit ist vielen Anlegern, privaten wie professionellen, die Lust am Börsengeschäft vergangen. Eine Skandalmeldung löst die andere ab (siehe Text rechts).
Und deutsche Unternehmen scheinen nicht weniger skrupellos zu sein als ihre amerikanischen Kollegen, wie der Fall des Finanzdienstleisters MLP zeigt. Das Heidelberger Unternehmen wird beschuldigt, einen großen Teil seiner Gewinne jahrelang durch zweifelhafte Bilanzmethoden erzielt zu haben. Kürzlich analysierte das Saarbrücker Institut für Wirtschaftsforschung die Geschäftsberichte von 200 wichtigen Aktiengesellschaften – und stellte bei mehr als der Hälfte „erhebliche Mängel“ fest. Auch die Zunft der Börsenanalysten ist in Verruf geraten, seit ehemalige Stars wie Henry Blodget Aktien offiziell zum Kauf empfohlen haben und sie gleichzeitig in Mails an Freunde und Kollegen als „Bullshit“ bezeichneten. Bei all dem Gemauschel verdienten sich Vorstände, Wirtschaftsprüfer und Analysten eine goldene Nase. Deshalb meint Nerb vom Ifo Institut: „Der Shareholder-Value ist für viele Aktienbesitzer zum Vorstands-Value verkommen.“
Dieser Vertrauensverlust hat zur Folge, dass Anleger bei der kleinsten Andeutung einer Ungereimtheit in Panik geraten – und verkaufen. Kaum zu glauben, dass es noch vor zwei Jahren beim Aktienkauf oft keine Rolle spielte, ob das Unternehmen überhaupt Gewinn machte. Wer ein paar tausend Mark übrig hatte, kaufte Aktien, notfalls auch auf Pump. Das führte zu einer enormen Überbewertung fast aller Kurse. Mittlerweile jedoch ist der Dax nach Berechnungen des Ifo Instituts sogar unterbewertet. Die Münchner Forscher beobachten „reale“ Faktoren wie das Geschäftsklima, die Auftragsentwicklung, die Zinshöhe und die Konjunkturentwicklung in den Industrieländern. Nerb: „Danach müsste der Dax bei über 5.000 stehen.“ Es sei an den Finanzmärkten leider normal, dass die Indizes nach oben und unten „überschießen“, bevor sie wieder ein Gleichgewicht fänden.
Jetzt hoffen die Experten auf die Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Im August tritt an den deutschen Börsen ein Verhaltenskodex in Kraft. Darin enthalten: alte Unternehmertugenden wie Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit.
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