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Die Popfabrik

Unterhaltungsmusik ist eine flüchtige Ware. Ein Stoff für Millionen, dessen Haltbarkeit kaum über die nächste Hitparadennotierung hinausreicht. Denn die Produzenten interessiert nichts als das Produkt. Das legendäre deutsche Nachkriegslabel Polydor hat in seinen Archiven jetzt wenigstens einige Ausgrabungen vornehmen lassen

von JAN FEDDERSEN

Bettina Greve, 40, kennt die Popindustrie seit 1991. In Hamburg zählte sie mit zum Promotionteam der Polydor. Der Job beinhaltete nichts, als Journalisten darüber aufzuklären, welcher Act, welche Künstler, kurzum: welche Produkte aus ihrem Haus gerade ganz frisch aus dem Press- und Prägewerk gekommen sind – und dringend der öffentlichen Aufmerksamkeit bedürfen. Immer gut drauf, immer munter – eine Art Edelkäuferin jener Ware, um die es bei jedem Plattenlabel geht: Das Personal im Laden bedient ja nur die Kasse, eine wie Greve hatte den Job, die neuen Tonträger überhaupt erst zu mediatisieren.

Der Umweg über die Onlineabteilung beim Universalkonzern, zu dem die Polydor, bis zu diesem Jahr zuständig für Pop (und Schlager), gehört, brachte ihr schließlich einen Job, der eigentlich nur in kulturbeflissenen Häusern – wie der Deutschen Grammophon, ebenfalls zu jenem Konzern gehörend – eine Rolle spielt: den der Archivrechercheurin. Kurz vor dem Umzug von Universal in diesen Tagen nach Berlin, einige Monate ehe das als zu beschaulich wahrgenommene Hamburg gegen das „quirligere Berlin“ (Tim Renner, Chef des Konzerns) als Standort verlassen werden sollte, bekam Bettina Greve den Auftrag, die Geschichte der Schallplattenmarke Polydor aufzuschreiben.

Ungewöhnlich genug, denn Unterhaltungsmusik hat zwar schon Ende der Fünfzigerjahre (nicht nur) in Deutschland von den Umsätzen her der klassischen Musik den Rang abgelaufen, aber das war nie ein Grund, ihre Produktion, ihre Geschichte und ihre Irrtümer zu dokumentieren. Um es mit der Logik eines Konzerns zu beantworten: Weshalb auch? Einer Firma wie der Polydor, immerhin das prägende deutsche Nachkriegslabel, ging es niemals um die Überlieferung und Konservierung von Kulturgut – sondern um Umsätze, Profit, Marktanteil. Anders als bei kleineren Firmen, die sich mehr oder minder ambitiös auf den (für sie dennoch einträglichen) Service für Publikumsnischen (Jazz, Punk, Weltmusik) verlegen, stand hinter der Idee von Polydor nie etwas anderes, als die Gunst des Millionenpublikums zu erkennen. Und die charismatischen Fähigkeiten ihrer KünstlerInnen marktfähig zu bündeln.

Dies steht nicht in dem Buch, das Greve schließlich herausgegeben hat, das ist auch nicht notiert in der schmucken apfelsinenfarbenen Box, die von Bear Family Records veröffentlicht worden ist: Aber diese Moral lässt sich belegen mit vielen Beispielen, die diese Recherchen zutage förderten. In den hauseigenen Kellern ließ sich kaum etwas vorgeordnet sichten. Schließlich, erzählt Greve freimütig, sei sie darauf angewiesen gewesen, von Kollegen Tipps zu bekommen – und die wurden ihr gerne gegeben: Männer und Frauen, die auf ihre Weise Erfolg oder Misserfolg hatten, um aus singenden Talenten Stars zu machen. Nichts jedenfalls wird beschönigt.

Berichtet wird beispielsweise, wie Mitte der Sechziger, auf einem der frühen deutschen Liedermacherfestivals auf der Burg Waldeck im Hessischen, ein Talentscout der Polydor auf einen sehr dürren, eher literarisch denn politisch orientierten Barden stieß. Das klang recht französisch orientiert, aber nicht wie Gilbert Bécaud oder Juliette Gréco, sondern wie Georges Brassens. Man bot ihm einen Plattenvertrag. Was der gebürtige Berliner zu singen hatte, war Sache der Firma.

Auf die deutsche Fassung des Donovan-Songs „Catch The Wind“ fiel die Wahl, als „Geh und fang den Wind“ wurde sie auf den Markt geworfen. Sie floppte – was für den Sänger das Ende seiner Polydor-Zeit bedeutete, unfreiwillig.

Aber eben nicht wie für ungezählte andere Musiker und Sänger das Ende der Karriere. Dieser Mann, der als Rainer May keine zweite Chance erhielt, setzte sich durch – als Reinhard Mey. Betreut seit Ende jenes Jahrzehnts vom eigens für seinen Markt gegründeten Intercord-Label, zählt er nach wie vor zu den sichersten Umsatzquellen im Unterhaltungsgeschäft.

Polydor, sagt Bettina Greve verteidigend, sei kein Repertoirelabel, also nicht auf langfristigen Aufbau mit künstlerischen Vorsätzen abonniert. Polydor wie auch andere mainstreamorientierte Marken, das mag das grundsätzliche Desinteresse am gründlichen Rückblick erklären, hat an Kunst nur gelegentliches, weil zufälliges Interesse, nicht von der Sache her: Und die Sache heißt Pop. Mag dieser Begriff früher auch Schlager genannt worden sein – Pop ist die zutreffende Vokabel, denn sie bedeutet populär, hitverdächtig, chartfähig. Mag eine Entertainerin wie Caterina Valente heute selbst in Kreisen, die auf Lounge-Berieselung halten, einen spektakulären Ruf genießen: Für die Polydor war sie eine Geldmaschine, die der Pflege bedurfte, weil andere Firmen gerne bei der Sängerin vorstellig wurden – man weiß ja nie, ob sie nicht wechseln möchte … Und die Unterhaltungsbranche ist kleiner, als der Plattenkäufer denkt, da passt man besser auf seine besten Produkte auf.

Insofern verdient die Polydor das Prädikat der Popfabrik – weil sie eben keine Manufaktur für die Haute Couture, sondern das Studio für Prêt-à-porter sein will. Ist einer wie Louis Armstrong ein Hitmacher? Ist doch egal, dass seine Hautfarbe dunkler ist, als man es in Deutschland damals gewöhnt war: Dann soll er doch ein deutsches Wiegenlied singen, das gefällt dem Publikum bestimmt: „Uncle Satchmo’s Lullaby“ mit der kleinen (natürlich hellhäutigen) Gabriele – das war als Kalkulation ein gelungenes Projekt, also ein Hit.

Auch Freddy Quinn, Roy Black, Abba, James Last – alle sichere Interpreten von verkäuflicher Ware. Hätte Quinn sich freilich künstlerische Autonomie ausbedungen und darauf bestanden, lieber Rock ’n’ Roll als „Heimweh“ (1956) zu singen, ja, so sind die Gesetze des Pop, wäre er nicht mal unter „ferner liefen“ in die Unterhaltungschronik des Nachkriegsdeutschland eingegangen. Nur Abba konnten sich erlauben, zu tun und zu lassen, was ihnen behagt – die waren erfolgreich über Deutschland hinaus und deshalb unabhängig von den eher konservativen, dem Neuen weniger zugewandten Attitüden der Durchschnittsdeutschen.

Die gleiche Regel trifft auch auf alle anderen Spielarten der Branche zu. Würde ein Label wie Polydor mit – sagen wir – Texten im Stile von Gottfried Benn oder Durs Grünbein und einem Sound wie von Albert Mangelsdorff oder Luigi Nono Millionengewinne erzielen, würde man nämliche Künstler pushen wie einst Quinn, Valente, Black oder Ramsey. Was zählt, alles in allem, ist kein künstlerischer Output, also der kulturelle Mehrwert, um Pierre Bourdieu zu bemühen, sondern, ganz kapitalistisch, das zu verkaufende Produkt. Deshalb käme bei Universal niemand auf die Idee, obertonige Gesänge eines Engadiner Nonnenensembles zu publizieren – sondern eben die „No Angels“.

Dass achtzig Prozent der Produkte, so viel räumt man bei der Universal ein, am Markt nicht reüssieren – das gehört zum Geschäft. Die Ware ist flüchtig – die Musik; und die Kundschaft launisch und unberechenbar. Heute kauft es die LP-Aufnahme des Musicals „Haare“, morgen Heavy Metal. Scouts und Manager sollen es herausfinden.

Gut ist, was gefällt – und so kam auch Frl. Menke und ihr „Hohe Berge“ 1982 zur Polydor: Die Neue Deutsche Welle wurde zwar verschlafen, zumindest sollte aber der Rahm vom Angriff auf die alte Schlagerästhetik abgeschöpft werden.

Der Umzug nach Berlin, so Konzernchef Tim Renner, dient der Marktbeobachtung, weil die Stadt Trends setze. Man wird sehen. Polydor, im Übrigen, macht nur noch Pop, der schlagerfern klingt. Schlager im klassischen Sinne sind kein Pop mehr – und deshalb bei der (just gekauften) Konzerndependance Koch in München angesiedelt, mit deren Hilfe sie ihre Nische suchen können. Bettina Greve hat famos recherchiert. Ausgraben konnte sie: ein Lehrstück in Sachen Mainstream.

JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, lernte die Tücken der Recherchen wie die Lücken der Archive zum Thema Unterhaltungsmusik bei den Arbeiten an seinem Buch „Ein Lied kann eine Brücke sein“ (Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 502 Seiten, 25 Euro) kennen

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