Die unberechenbare Toplage

taz-Serie „Berliner Bergwelt“: Der Teufelsberg überragt die Stadt. Der Hausberg der Berliner glänzte als alpine Abfahrtspiste, Horchposten der USA und Spekulationsobjekt. Seine Zukunft ist ungewiss

von HANS KORFMANN

An den Wochenenden wandern die Berliner zu ihrem Berg, in Scharen, wie die Lemminge. Im Winter sind sie eingepackt in dicke Felljacken, trinken Glühwein und essen Bratwürste auf dem Parkplatz der Basisstation, schleppen ihre Rodel den Berg hinauf und rutschen auf 10 Zentimeter Neuschnee mit ihren Skiern talwärts, als wäre es Kitzbühel. Im Sommer sind es die Spaziergänger, die Drachenbauer, die Rollerscater und die Mountainbiker, die den Berg bevölkern, sogar mit ihren bunten Paraglidern stürzen sie sich den zu groß geratenen Maulwurfshügel hinunter, hoffnungsvoll, als handele es sich um eine Felswand in den Alpen. Immerhin weht oben ein scharfer Wind. Er hat Hunderte Kilometer Anlauf genommen. Kein anderer Berg reicht so weit in den Himmel über Berlin wie die höchste Spitze dieser winzigen Hügellandschaft am Rand der großen Stadt.

Der Teufelsberg ist der Vergnügungsberg der Berliner. Genau den hatten die Stadtväter auch geplant, als sie nach dem Krieg damit begannen, den Schutt aus der zerstörten Hauptstadt zu schaffen. Die Hälfte davon, Trümmer aus 400.000 zerbombten Häusern, häufte man zum höchsten Berg Berlins an. Den ersten Stein zu diesem Teufelsberg hatte Hitler 1937 noch selbst gelegt: den Grundstein zur „Wehrtechnischen Fakultät“ seines „Tausendjährigen Reichs“.

13 Jahre später schütteten Lkws ihre Trümmer in den sinnlosen Rohbau und füllten die Ruine, als wollten sie ein Kapitel deutscher Geschichte zudecken. Heute liegt die geplante Kriegsakademie unter 26 Millionen Kubikmeter Kriegsschutt, begraben in 100 Meter Tiefe.

Der Berg wuchs 22 Jahre. Bis zu 800 Lastwagen fuhren täglich zur Trümmersammelstelle im Grunewald. Goldgräber und Schatzsucher schlugen Basislager auf, ihre kleinen Feuer brannten bis in die Nacht. Sie förderten Ritterkreuze, Ehrenzeichen, Büsten und Bilder des Führers zutage, manchmal Tafelsilber, von einer kompletten Leica-Ausrüstung ging die Sage. Es waren Rentner und Arbeitslose, Kriegsverlierer.

Die „Männer streifen zu jeder Tageszeit auf dem Berg umher und suchen nach Eisen und Buntmetallen“, schrieb 1955 die Berliner Morgenpost, rings um den Berg „steigen schwarze Rauchfahnen in den trüben Winterhimmel“. Damals tauften die Berliner den neu geborenen Hügel auf den Namen „Monte Klamotte“.

Anfang der Sechzigerjahre hatte der Nordhang des Teufelsberges seine endgültige Gestalt angenommen, man pflanzte Eichen, Erlen, Akazien – fast eine Million Bäume. Der Berliner Hausberg war entstanden, ein Stück Natur mit Wanderwegen und Rastplätzen, und schon träumte der Städter von einem Wintersportzentrum mit einer Seilbahn, die von der Talstation zum Gipfel führen sollte, von einem Restaurant mit großartiger Aussichtsterrasse. Man legte zwei Sprungschanzen an, zwei Rodelbahnen und einen Skihang. Der Berg über der Ruine begann zu leben.

Als dann sogar ein Skilift in Betrieb genommen wurde und Schneekanonen den unwilligen Wettergott überlisteten, war Preußen den Alpen näher als je zuvor. Regelmäßige Skikurse fanden statt, die Berliner Verkehrsbetriebe setzten einen Sonderbus ein.

Die Wasserleitungen für die Schneekanonen liegen noch, doch Schnee produzieren sie schon lange keinen mehr. Immer wieder schmolzen die Pläne vom Wintersportzentrum dahin. Kaum hatte man 1963 das Modell der Gipfelstation mit Restaurant und Aussichtsturm der Öffentlichkeit präsentiert, meldeten sich die Alliierten zu Wort. Die Welt am Sonntag schrieb, dass sich bereits ein Dauermieter für den Berliner Gipfel gefunden habe: Die Amerikaner wollten „hier eine Telefonzentrale einrichten“.

Innerhalb kurzer Zeit schossen auf dem Gipfel fünf gigantische Boviste aus dem Boden – eine der modernsten und teuersten Abhöranlagen der Welt. Die weißen Kugeln wurden zum Wahrzeichen des Trümmerbergs. Der viele Trubel gleich neben der Spionagestation allerdings beunruhigte die Amerikaner, und 1972, als die Laster gerade ihre letzten Ladungen abkippten, um die künstliche Gipfelwelt des Teufelsgebirges zu vollenden, mussten die Berliner Wintersportler sogar den Betrieb des nahe gelegenen Skilifts einstellen. Mit ihren Antennen lauschten die Amerikaner bis in die Sowjetunion hinein. Kein Telefongespräch in Mitteleuropa war vor dem Lauschangriff sicher, erst recht keines in der Stadt der Spione.

Die Feldstation am Teufelsberg wurde zur Sperrzone, ein fünffacher Armeezaun, Wachposten und Sicherheitsschleusen verwehrten nun den Berlinern ihren Gipfelsturm. Unmissverständlich warnten Schilder vor unbefugtem Zutritt, und die Ausflügler hatten ihre Kameras wieder einzupacken, sonst drohte ihnen eine Bestrafung nach den „Gesetzen der USA oder der BRD“. Die Berliner mussten sich mit dem wenige Meter niedrigeren Nachbargipfel des Teufelsbergs begnügen.

Dennoch erlebte der Teufelsberg am 28. Dezember 1986 seinen alpinen Höhepunkt, als 15.000 Zuschauer die 400 Meter lange Piste säumten, um den ersten Weltcupslalom auf der mit Kunstschnee präparierten Piste zu erleben. Im Berliner Dauerregen gewann ein Österreicher, Leonhard Stock, den Parallelslalom, während die Siegeshoffnung der Deutschen, Markus Wasmeier, ausgeschieden kommentierte: »Super organisiert, tolle Resonanz!« So tief unten war wohl noch nie ein Sieger eines Weltcuprennens angelangt. Das Stockerl der viel bejubelten „Berliner Streif“, die mit 400 Meter Länge und 23 Prozent Gefälle noch immer „weltweit der beste Skihang in einer Großstadt“ ist, lag nur wenige Meter über null.

Leonhard Stock blieb auch der einzige Sieger vom Schrottberg. Obwohl die Amerikaner nach dem Fall der Mauer ihre 300 Spione vom Teufelsberg abzogen. Es herrschte wieder Funkstille am Gipfel, nur der Wind pfiff durch die offenen Türen und die zerbrochenen Scheiben sein einsames Lied. Dennoch blieb das Pförtnerhäuschen mit den schwarz getönten Scheiben auch weiterhin besetzt und verhindert bis heute den Zutritt.

Denn der Gipfel hat längst einen neuen Eigentümer. Bereits im Dezember 1996 hat das Land ihn verkauft. Zu einem „Skandalpreis“ von nur 5,2 Millionen Mark. Die Grünen protestierten, das Aktionsbündnis Teufelsberg rief zur Rettung des Trümmerhaufens auf, und die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald klagte gegen die Bebauung des Landschaftsschutzgebiets. Worauf der Senator für Stadtentwicklung, Peter Strieder, kurzerhand dem Berg seinen staatlichen Landschaftsschutz wieder entzog.

Doch vier Jahre später war noch immer nichts zu sehen vom „Resort Teufelsberg“ mit seinem Fünf-Sterne-Hotel nach „All-Suite-Konzeption“, seinen „136 eleganten Suiten“, dem Ballsaal, den Restaurants, der Beautyfarm und den 100 modernen Lofts, die der Unternehmer Hartmut Gruhl so stolz angekündigt hatte. Er hatte erkennen müssen, dass Berlin kein Pflaster ist „für Luxus pur“. Und bisher sind die Luxusvillen nur im Internet zu bewundern, auf dem Berg sind erst Teile der Tiefgarage und der Radarkuppeln ausgebaut worden. Zudem haben die Quadratmeterpreise der Eigenheime eine rasante Talfahrt hinter sich, ein Teil soll jetzt wegen mangelnder Nachfrage sogar vermietet werden. Und zwar für einen Preis von 8 bis 10 Euro pro Quadratmeter!

So häufen sich Gerüchte über finanzielle Schwierigkeiten des Kölner Bauunternehmers, der auch sechs Jahre nach dem Vertragsabschluss für das geplante Hotel keinen Pächter finden konnte. Zwar streute Gruhl mit seiner „Investorengemeinschaft Teufelsberg“ immer wieder die Nachricht von Interessenten in die Medienwelt, und sogar die Bundesregierung sei interessiert gewesen, in der ehemaligen amerikanischen Sicherheitszone ein luxuriöses und gut geschütztes Gästehaus einzurichten. Seitens der Interessenten blieben diese Botschaften jedoch stets unkommentiert.

Derzeit heißt es, ein Pachtvertrag mit einer französischen Hotelkette sei bereits ausgehandelt – man warte nur noch auf die Unterschrift. Und das Hotel werde im September 2004, so ein Sprecher der Investorengemeinschaft, termingerecht übergeben.

Der nun genannte Termin allerdings stammt aus einem Vertrag mit dem Senat, der ebenfalls noch längst nicht unterschrieben ist. Denn eigentlich hätten „Gruhl und Partner“ schon am 14. April dieses Jahres die Bauarbeiten abgeschlossen haben müssen. Die Grünen-Abgeordnete Claudia Hämmerling formuliert es knapp: „Die überdimensionierten Planungen sind nicht fristgerecht umgesetzt worden.“ Gewitterwolken sind am Gipfel aufgezogen, ein Rechtsstreit liegt in der Luft. Allerdings hat man Gruhl offensichtlich eine Verlängerung des Vertrages in Aussicht gestellt.

Doch schöne Aussichten gab es dort oben schon immer. Und schon immer rankten sich Gerüchte um den Berliner Berg. Ob es je zu einer Renaissance der „Berliner Streif“ kommen wird, ob der Berg zum städtischen Eldorado der Drachenbauer und Paraglider wird oder ob er zum abgeriegelten Luxushotel über der Metropole ausgebaut wird, weiß kein Mensch zu sagen. Die Berliner wissen nur eines: Der Teufelsberg ist unberechenbar. So wie eben jeder richtige Berg.