„Wir wollen nicht fragen: warum?“

Im Fall des SS-Offiziers Engel verknüpft das Hamburger Landgericht sein Urteil mit einer Schelte der Strafverfolger in Italien und Deutschland. Weil sie es 50 Jahre lang versäumten, den „Schlächter von Genua“ aufzuspüren, erhält er ein mildes Urteil

aus Hamburg PETER MÜLLER
und ANDREAS SPEIT

Mit dem Urteil beschreitet das Hamburger Landgericht juristisches Niemandsland. Auf Mord steht eigentlich lebenlänglich. Die Kammer macht aber von ihrer Möglichkeit der „Strafmaßverschiebung“ wegen der „außerordentlichen und unglaublichen Zeitspanne“ Gebrauch. „Die Strafverfolgungsbehörden in Italien und Deutschland waren 50 Jahre lang untätig“, tadelt der Vorsitzende Richter Rolf Seedorf, „warum, das wollen wir gar nicht hinterfragen.“

Sieben Jahre Haft hat das Gericht schlussendlich gegen Friedrich Engel verhängt, den Ex-SS-Obersturmbannführer und Exchef des Sicherheitsdienstes (SD), Außenkommando Genua. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass er der „Regisseur“ bei der Ermordung von 59 Partisanen und politischen Gefangenen am 19. Mai 1944 am Turchino-Pass durch ein Erschießungskommando der Marine war. Die Aktion diente als Vergeltung für einen Partisanenanschlag, bei dem fünf Soldaten starben.

Der Fall Engel wirft – das räumt das Landgericht in seiner Urteilsbegründung ein – Fragen im Umgang der Justiz mit NS-Kriegsverbrechern auf. 1999 war Engel – der in Italien der „Schlächter von Genua“ genannt wird – vom Turiner Militärgericht in Abwesenheit wegen 246-fachen Mordes bei drei Massakern in Ligurien zu lebenlänglicher Haft verurteilt worden. In Deutschland war Engel seit Kriegsende als Kriegsverbrecher bekannt, ohne Folgen: 1969 stellte die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein.

Der Grund ist heute nicht mehr zu klären, weil die Akten verschwunden sind und der Sachbearbeiter sich nicht mehr erinnern kann. Zwischen 1987 und 1993 war es der „Ludwigsburger Zentralstelle für die Ermittlung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“ und der Hamburger Ermittlungsbehörde angeblich nicht möglich, den Wohnsitz Engels ausfindig zu machen. Erst Journalisten ist es zu verdanken, dass der Rentner in seinem Haus in Hamburg-Lokstedt im Frühjahr 2000 aufgespürt wurde. Die Medienberichte setzten die Ermittler unter Druck, nach den verschwundenen Akten zu fahnden, und die Unterlagen aus dem italienischen Verfahren zu übersetzen.

Selbst das jetzige Verfahren wäre vermutlich anders ausgegangen, wenn sich nicht vor wenigen Wochen der Rentner Walter Emig im Darmstädter Echo gemeldet und als Augenzeuge des Massakers seine Aussage angeboten hätte. Obwohl er auf der Liste möglicher Tatzeugen stand, hatten es die Ankläger versäumt, ihn zu den Vorfällen in der Nacht des 19. Mai 1944 zu befragen. Im Prozess selbst wurde Emig dank seiner guten Erinnerungen zu einem der wichtigsten Zeugen.

Trotz des Schuldspruchs braucht Engel, der das Urteil nicht kommentieren wollte, den Knast nicht mehr zu fürchten. Über die Revision wird wohl in diesem Jahr nicht mehr entschieden. Schon jetzt deutete das Gericht an, dass der 93-jährige rüstige Greis wegen seines Gesundheitszustandes nicht mehr haftfähig ist.