piwik no script img

Milliardenbetrug an der Wall Street

Um 12,4 Milliarden Dollar blähte der US-Pharmakonzern Merck in den letzten drei Jahren seine Bilanz auf. Das Unternehmen wies Umsätze aus, die nie in seiner Kasse ankamen. Diese Woche soll der Senat Gesetze gegen Bilanzfälschung verabschieden

US-Präsident Bush will heute persönlich den Unternehmern ins Gewissen reden

aus Washington MICHAEL STRECK

Die Woche an der New Yorker Börse begann mit einem weiteren Paukenschlag. Der US-Pharmakonzern Merck & Co hat in den vergangenen drei Jahren offenbar Umsätze in Höhe von 12,4 Milliarden Dollar ausgewiesen, die nie in der Kasse des Unternehmens gelandet sind. Das berichtet das Wall Street Journal in seiner Montagsausgabe unter Verweis auf Unterlagen, die der Pharmariese bei der amerikanischen Börsenaufsicht SEC Ende vergangener Woche eingereicht hatte, weil die Merck-Tocher Medco an die Börse geht.

Medco verwaltet für 65 Millionen Amerikaner die Abrechnungen von verschreibungspflichtigen Medikamenten und ist zweitgrößter Anbieter auf dem US-Markt. Wenn ein Patient bei seiner Apotheke ein Medikament kauft, werden die Kosten über eine Rezept-Karte von Medco oder einem anderen Anbieter abgerechnet. Der Kunde muss lediglich die gesetzlich vorgeschriebene Zuzahlung – je nach Medikament beträgt diese zwischen 10 und 15 Dollar – in der Apotheke aus eigener Tasche begleichen.

Diese Zuzahlung geht vollständig in die Kasse der jeweiligen Apotheke. Medco kommt mit diesem Geld buchhalterisch nicht in Berührung. Nach Angaben des Wall Street Journal bucht der Pharmakonzern bei seiner Tochter Medco die Zuzahlungen jedoch als eigenen Umsatz. Dadurch werde Medcos Gesamtumsatz um etwa zehn Prozent künstlich aufgebläht. Außerdem wird der Wettbewerb verzerrt, da die Medco-Konkurrenten AdvancePCS und Express Scripts diese Form der Luftbuchungen nicht anwenden.

Merck weist den Vorwurf der Bilanzmanipulation zurück. Die Praxis, die Zuzahlungen in der Gewinn- und Verlustrechnung als Umsatz zu buchen, sei kein Verstoß gegen amerikanische Bilanzierungsregeln. Zudem ziehe Merck den Umsatz aus dem so genannten Co-Payment als Ausgabe vom Gesamtumsatz ab, das Ergebnis werde von der Buchhaltungspraxis somit nicht beeinflusst.

Es darf bezweifelt werden, dass Merck mit diesem Argument seine Haut retten kann. Vor kurzem hatte die US-Börsenaufsicht im Fall des Schulbetreibers Edison Schools entschieden, dass es bei der Verbuchung von Umsätzen nicht nur auf eine formale Übereinstimmung mit den herrschenden US-Bilanzregeln ankommt. Auch Edison hatte Umsätze in seine Bilanz eingerechnet, die nach Ansicht der SEC tatsächlich nie bei dem Unternehmen ankamen. Eine korrekte Bilanz schütze Unternehmen nicht vor einer Verfolgung durch die Börsenaufsicht, wenn die Finanzberichte „das Geschäft falsch charakterisieren oder wichtige Informationen auslassen“, schreibt die SEC in einer Begründung zum Fall Edison Schools.

Kritiker appellieren an die SEC, diese Praxis nicht länger zu tolerieren. Durch die fiktiven Umsätze entstünde ein falscher Eindruck von den wirtschaftlichen Aktivitäten eines Unternehmens. Mit dieser Forderung dürften sie jedoch offene Türen bei der Börsenaufsicht einrennen, die momentan alles vermeiden wird, was den Vertrauensverlust in amerikanische Firmen vergrößert. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht neue Fakten über die skandalöse Bilanzierungspraxis amerikanischer Unternehmen enthüllt werden.

Immerhin wird der US-Senat diese Woche mit großer Sicherheit ein Gesetzespaket verabschieden, das Firmen strenge Regeln für ihre Buchführung auferlegt. Die SEC verpflichtete bereits vergangene Woche die Chefs aller wichtigen US-Firmen, unter Eid auszusagen, dass ihre Bilanzen korrekt sind – bei Falschaussage drohen beachtliche Gefängnisstrafen. Und Präsident Bush, selbst ins Gerede gekommen wegen dubioser Geschäfte aus seiner Zeit als erfolgloser Unternehmer, will heute persönlich an der Wall Street der US-Wirtschaft mit patriotischen Worten ins Gewissen reden und dem Standort Amerika ein neues Unternehmerethos predigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen