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Veronica, der Lance ist da

DAS SCHLAGLOCH von FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH

Das erste Doping waren Alkohol und andere bewusstseinserhei-ternde Drogen, damit man es durchsteht

Der fährt gut: nämlich die von Toni Rominger auf Eurosport zu Recht geforderte hohe Kadenz, ohne die man heute in der Spitze des internationalen Radsports keine Chance hat. Jedenfalls, soweit ich das aus 150 Metern Rückstand erkennen kann: Uhrwerkssolide kreiseln die Waden ums Tretlager, und schnell. Kleines Blatt, großes Ritzel, muss so sein – mehr als mutmaßen kann ich nicht, denn seit drei Runden rolle ich ihm hinterher, und ebenso lange verringert sich der Abstand nicht.

Wobei Ehrgeiz der störendste Begleiter ist, den man auf die 800 Meter lange Rundstrecke am Westfalenpark mitbringen kann. Sagt Jürgen, der es wissen muss und trotzdem manchmal wissen will. Dann rollt er mich müde, übersteht ein, zwei Ausreißversuche, kurbelt schön gelassen durch und fährt mir am Ende weg. Steigt er später vom Rad, kann man auf seinen Knien operative Schnittmusterbögen erkennen. Hier wurde eine große Fußballerkarriere verflixt und zugenäht. Auf dem Sattel merkt man aber davon gar nichts.

Heute hat er einen Job, so kurbel ich alleine die Runden runter; nur der beharrliche Kollege weiter vorne rollt noch in den Abend. Auf der langen Geraden leicht bergan sehe ich ihn jedes Mal vor mir; kurze Radlerhosen, ein Trikot bunt wie ein RTL-2-Programmhinweis auf Drogen. Seine Schultern bewegen sich linksrechts keinen Millimeter – so soll es sein. Der ist noch lange nicht müde. 140 Meter Abstand. Mein abwesender Lehrer Jürgen kennt sich mit Buddhismus aus; ich habe nur zwei Jahre Am-Berg-abgehängt-Werden gebraucht, um die Weisheit „Mein Tempo oder kein Tempo“ in Herzhöhe runterrieseln zu lassen. Dazu kann wesentlich konsequente Atmung durch die Nase beitragen. Der wiederum strömt ein übelriechendes Emscherderivat gerade jetzt in der kühleren Abendluft entgegen. Südlich der Rundstrecke güllt die betonierte Beke vor sich hin. Vielleicht fiel es der organisierten Sozialdemokratie deshalb leichter, dies Grundstück den Radsportlern zuzuschustern. Immer noch besser, als mit dem Vorderrad in die örtlichen Straßenbahnschienen einzufädeln und unelegant abzufliegen (Beckenprellung) oder auf einem unübersichtlichen Radweg gegen zwei außerordentlich entgegenkommende Mofafahrer zu verlieren (Naht mit 4 Stichen am Kinn). Die örtlichen Radsportclubs, die sich zettelweise die Strecke für Trainingseinheiten reservieren, künden mit patinierten Vornamen wie „Sturm“, „Adler“ oder „Phoenix“ von der ruhmreichen Vergangenheit der Arbeitersportvereine. Ihrem Lobbyismus ist zu danken; gerade rolle ich leicht bergab an dem segensreichen Schild vorbei: Ganz verboten für alles außer Fahrrad. Sehr schön. Dies Stück gegenüber der Start- und- Zielgeraden hat eine sanft geschwungene S-Kurve, deshalb kann ich Meister Uneinholbar nicht sehen, tippe aber mal so noch 120 Meter.

Tagsüber, wenn ein grundsympathisches Rudel von Blaumachern, Frührentnern, Mein-Laden-läuft-auch-mal-ohne-mich-Chefs und Müßigrollern in Zweierreihen rumkurvt, kann man sich die schöne Legende vom einzigen Unfall auf der Rundstrecke erzählen lassen. Ein Motorradpolizist auf Gangsterjagd übersah nächtens das Fahrtrichtungsschild am Eingang, fuhr falschrum ein und rammte frontal einen späten Sportler. Die Geschichte gibt’s in den drei Geschmacksrichtungen Radler tot, Polizist tot und beide überlebt. Der Kerl vor mir fährt, als sei er auch zu jung, mir die Originalversion erzählen zu können; müsste aber auch brüllen, 90 Meter. Das messe ich an dem Zielstrich ab, der mir erstmals richtig auffiel, als er eines frühen Morgens mit bunter Schulkreide zum Geburtstagsgruß für einen betagten Jubilar ausgeschmückt prangte. Früh um sechs hatten zwei Kollegen auf Knien über den Asphalt gekünstlert. Beidseitig des Zielstrichs stehen Wartehäuschen, da lagen Kreidereste rum. Winters stand da auch mal ein Spirituskocher zwecks Glühweinzubereitung; was ich mir anschließend zusammenfuhr, war ein eindrucksvoller Beitrag zur Diskussion um die Helmpflicht. Sagen wir: Noch 80 Meter, und warum fahre ich eigentlich nicht einfach so langsam, dass er, andersrum, mich überrundet? Sehen kann ich die Sportskanone dann doch auch. Aber der Ehrgeiz.

Wird zwischendurch die Luft knapp, die Wade zickig oder insgesamt die Frage aufgeworfen, was der Kreisverkehr eigentlich soll – kurz, wickelt sich die Realität klebstoffzäh ums Hinterrad – bitte klein schneiden. Für berufliche, private oder überhaupt frecherweise existierende Probleme gilt: Das Kettenblatt zwischen meinen Füßen hat das Problem in mortadellafeine Scheiben zu tranchieren; insgesamt lässt sich beim Radfahren trefflich hassen, weil man am Ende matt ist und das Problem immer noch da. Man hat nur keine Lust mehr, sich zu ärgern.

Mich ärgert ja auch nicht, dass Kollege Vorneweg immer noch 40 Meter hat und ich nach der Rampe zwei, drei Luftzüge durch den Mund machen muss, weil ich’s jetzt dann doch wissen will. Wird ja nicht schöner dadurch, dass ich inzwischen erkennen kann: Der fährt den kleinstmöglichen Gang. Ich mach hier den Ullrich, und der rollt pantanoid entspannt trotzdem immer wieder weg. Jürgen sagt, hier trainierten auch gehobene Amateure, einen Profi beim Ausrollen nach einem Abendkriterium hat er hier auch mal kennen gelernt – das kann ja hier wohl nichts anderes sein. Leck mich, nun isses egal: Dickes Blatt, kleines Ritzel, Rominger halt’s Maul. Ja, ich japse, aber bis morgen früh ledert der mich nicht ab. Die Abenddämmerung hat sich entschieden, erst mal gezielt auf meinen Tacho zu plumpsen. Aber Runden zählen ist eh durch, jetzt wird gekurbelt, bis der Vorzeigeathlet mein Hinterrad sieht. Gut, anderntags werde ich wieder Augen haben für das vieltausendfache Funkeln der Glühwürmchen im Gehölz links der Strecke. Ein Akt der Wiedergutmachung für den Schneckenfriedhof am Unterrohr, das man im Frühling und Winter sofort abwaschen muss, sonst Nase. 15 Meter, Hagen Bossdorf hat heute noch mal erklärt – da wird’s interessant, der Kernwindschatten bringt bis zu 20 Prozent Erleichterung, jetzt hast du verloren.

Ich mach hier den Ullrich, und der rollt mir pantanoid entspannt trotzdem immerwieder weg

Interessant: Ein Rad aus der Maßschneiderei ist kein Snobismus, sondern nur vernünftig, wenn man keinen Rückenschaden will. Rings um Dortmund gibt’s noch ein, zwei Männer mit der Lizenz zum Löten. Das gelbe Trikot da vorne hat so ein sehr gepflegtes, aber altes; hätte ich so ’nem jungen Ehrgeizling gar nicht zugetraut. Die fressen doch lieber Präparate und nehmen Zeugs und vergessen der guten Tradition, dass Radsport vor allem langweilig ist, wenn man’s professionell betreibt und hunderte Kilometer abspult. Und, angeblich, das erste Doping deshalb Alkohol und andere bewusstseinserheiternde Drogen gewesen sein sollen, damit man es durchsteht.

So. Nicht triumphierend gucken, sondern ganz gelassen, und „ätsch“ nur denken. 0 Meter. Ich blicke rechts rüber zu ihm, sehe – keinerlei Anspannung. Keinen Schweißtropfen. Milde Gelassenheit. Und 60 Lebensjahre. Ich grüße, lasse mich zurückfallen und rolle raus, auf Eurosport kommt die Zusammenfassung der heutigen Tour-Etappe.

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