: Blutskandal geht in nächste Runde
Der französische Justizminister greift in die Affäre um HIV-infizierte Blutkonserven ein. Nun muss das Kassationsgericht entscheiden, ob die Einstellung des Verfahrens juristisch einwandfrei ist. Opfer und Angehörige demonstrieren
aus Paris DOROTHEA HAHN
Knapp zwei Jahrzehnte nach den Anfängen des Blutskandals, bei dem in Frankreich bis zu 4.000 Menschen bei medizinischen Eingriffen mit dem HI-Virus verseucht worden sind, könnte es doch noch eine gerichtliche Suche nach den Verantwortlichen geben. Nachdem die Justiz am vergangenen Freitag den letzten anstehenden Prozess gegen 30 Personen aus Politik und Medizin eingestellt hatte, kündigte Justizminister Dominique Perben an, er habe – zusammen mit dem Generalstaatswanwalt von Paris – eine Nichtigkeitsklage eingereicht. Das Kassationsgericht muss nun prüfen, ob tatsächlich juristische Verfahrensfehler zur Verfahrenseinstellung geführt haben.
Die Richter hatten die Verfahrenseinstellung damit begründet, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen dem Verhalten der 30 angeklagten Personen – darunter die Blutübertragung verschreibende Ärzte, Mitarbeiter der Ministerialbürokratie und Verwalter im Gesundheitswesen – und den Folgen ihres Handelns für ihre Patienten gebe. „Es gibt keinen Beweise dafür“, heißt es in dem Text unter anderem, „dass die Ärzte von dem zwangsläufig tödlichen Charakter wussten.“
1993 war bereits der Chef des nationalen französischen Transfusionszentrums CNTS, Doktor Michel Garetta, zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Er wusste, dass die unter anderem in Gefängnissen eingeholten Blutkonserven, die sein Zentrum landesweit an Patienten verabreichte, die Gefahr einer HIV-Infektion bargen. Und er zog sie dennoch nicht umgehend aus dem Verkehr. 1999 beriet ein Spezialgericht, der „Cour de justice de la République“ über die Verantwortung der Spitzenpolitiker. Das Spezialgericht sprach den Expremierminister Laurent Fabius (1984–1986) sowie seine Ministerin Georgina Dufoix frei. Es verurteilte, freilich ohne jede weitere Sanktion, den zweiten für Gesundheit verantwortlichen Regierungspolitiker Edmond Hervé. Ermittlungen gegen die 30 mutmaßlichen anderen Verantwortlichen des tödlichen Skandals im Gesundheitswesen waren die letzte Möglichkeit für eine kontroverse juristische Debatte über den Fall.
Unter den Opfern und ihren Angehörigen verstanden viele die Verfahrenseinstellung als einen Freibrief für jedweden Missbrauch. „Nein zum Recht auf strafloses Töten“, schrieben sie auf Poster, mit denen sie am Montag vor dem Pariser Hauptgericht gegen die Verfahrenseinstellung demonstrierten. Auch Opfer anderer Medizinskandale, Angehörige von BSE-infizierten Creutzfeldt-Jacob-Patienten sowie mit Wachstumshormonen behandelten Patienten beteiligten sich an der Demonstration. Sie befürchten, dass die Straffreiheit künftig weite Kreise ziehen könnte.
Der 76-jähriger Vater eines 1991 an Aids verstorbenen Mädchens zerriss vor laufenden TV-Kameras seine Wählerkarte. „Die Justiz ist eine Säule der Demokratie“, begründete Henri Aloncle seine Geste, „wenn sie verdorben ist, dann ist eh alles verloren.“ Seine Tochter war 1984 bei einer Blutübertragung mit dem Virus infiziert worden. Aloncle: „Dass sie Aids hatte, haben wir erst elf Tage vor ihrem Tod erfahren.“
Ein anderer Angehöriger hat im Zuge des Skandals seine Eltern verloren. Der Vater von Hervé Duplessis war Arzt und infizierte sich bei einer Notfalloperation an einer Blutkonserve, die aus Gefängnissen stammte, wie der Sohn sagt. Die Familie erfuhr wenige Tage nach seinem Tod von der Krankheit, an der er gestorben war. „Lassen Sie sich am besten einmal untersuchen“, sagte man der Witwe. Jahre danach ist der Sohn der beiden Medizinopfer restlos von seiner Republik enttäuscht. „Man hat zugelassen, dass sich das Virus verbreitete, ohne die Angehörigen zu warnen“, sagte Duplessis dem Figaro. Auch er geht nicht mehr wählen.
Die Berufung des Kassationsgerichtes stieß in Frankreich auf ungeteilten Beifall. Auch wenn klar ist, dass dieses Gericht nur juristische Fragen beraten, nicht jedoch den Hintergrund der Affäre prüfen wird. So darf es nicht klären, zu welchem Zeitpunkt die Ministerialbeamten und die angeklagten Ärzte erstmals von der Möglichkeit einer HIV-Übertragung erfahren haben.
Zugleich sorgte die Ankündigung des französischen Justizministers für einen Skandal im Skandal. Nachdem die verflossene rot-rosa-grüne Regierung fünf Jahre lang versucht hat, sich nicht in Justizaffären einzumischen, zeigt Dominique Perben mit seiner Erklärung, dass die Unabhängigkeit der Justiz von der jetzigen Regierung ein wenig anders verstanden wird.
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