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Die Wolken ziehn vorüber

Eine Reise durch das Land des traurigen Lächelns: Finnland, bekannt durch die verfilmte Melancholie des Aki Kaurismäki, zeigt sich dem Wanderer unaufgeregt. Ein Hort der Ruhe – und der Mücken

von HANS MARTENS

Die Tür zur Veranda fällt immer wieder zu. „Wetterumschwung“, sagt Sirpa. „Jetzt musst du hier bleiben!“ Wenn das Land die Farbe wechselt, beginnt Finnlands hübscheste Jahreszeit! Es weiß nur kaum einer.

Wir sitzen im Tagesraum des Gästehauses in Rovaniemi, am nördlichen Polarkreis. Zu sehen ist nichts, nur zu fühlen: Diese gedachte Kreislinie geht einem durch den Kopf. Etwas heruntergekommen wirkt das Haus, triste Ecken, karg möbliert. Wie die Kulisse zu einem Kaurismäki-Film. Ich meine manch einem der Gäste schon auf der Leinwand begegnet zu sein. So zurückhaltend in Gesten und Worten geben sich auch hier die Leute. Etwas ist wohl dran am Klischee, die Finnen seien scheu und redeten kaum. Mag sein, sagt Sirpa, es hat aber nichts mit Unhöflichkeit oder Misslaunigkeit zu tun. Doch da ist noch etwas, und das heißt: sisu. Es steht für den hartnäckigen Umgang mit Problemen. Vielleicht so zu erklären: Wenn ein Finne durch eine Drehtür geht, ihm aber die Richtung nicht passt, stemmt er sich so lange gegen die Tür, bis sie sich in seinem Sinne herumdreht. Das ist sisu. Jeder Finne hat es, sagt Sirpa. Sie war in Deutschland verheiratet und beginnt nun, ihre Heimat wiederzuentdecken.

Zusammen sind wir einige Etappen auf dem „Bärenpfad“ nördlich von Kuusamo gewandert. Mittleres Marschgepäck auf den Schultern, ein Zelt ist nicht nötig, die Strecke ist mit Hütten gut bestückt. Anfangs streifen wir den Oulanka-Nationalpark. Wälder werden von Mooren abgelöst. Wir laufen über glitschige Holzbohlenwege. Dann stoßen wir auf tief in Felsen geschnittene Flussläufe. Die Natur zeigt hier, was sie kann. „Es war aber die letzte Eiszeit“, sagt Sirpa. Über die erste Hängebrücke laufen wir schwer schwankend hintereinander her. Tief unter uns brodelt Wasser in Stromschnellen. Von jetzt an geht es nur noch einzeln über Hängebrücken. Die Welt ist schön, und keiner kann hier tiefer fallen als bis auf den Grund, erzählt Sirpa. Sie will ihre Deutschkenntnisse anwenden.

Bald reden wir weniger, wir müssen Kraft sparen, konzentrieren uns auf den manchmal schwierigen Pfad. Und auf die Schönheit der Landschaft. Endlich, die Hütte ist erreicht, das Tagessoll geschafft. Ein Lagerfeuer brennt. Einige Finnen kochen ihr Mahl. Und was wäre ein lappländischer Abend ohne Mücken? Ohne diese grazil tanzenden, melodisch summenden Geschöpfe? Ein Trost, dass nur jede zweite Mücke sticht. Genauer: nur die weiblichen Tiere. Und auch nur einmal in ihrem Leben. Das erbeutete Blut wird für die Aufzucht der Larven gebraucht. Ich warte eigentlich auf das Zauberwort sisu und die Folgen. Nichts passiert. Stattdessen lerne ich ein weiteres wichtiges Wort: säaskiöljy – Mückenschutzmittel.

Der nächste Morgen, das Flusswasser des Oulankajoki ist ein Muntermacher. Nach einem kräftigen Frühstück sind wir wieder auf dem Bärenpfad. Einst führte er zu einer Bärenfalle. Sie muss gut gearbeitet haben, es gibt in dieser Gegend zur russischen Grenze keine Braunbären mehr. Wieder geht es in einen Wald hinein. Moos, Sumpf, Gestrüpp und Ruhe, manchmal klopft ein Specht. Pilze und Preiselbeeren in Mengen, die meisten warten wohl vergebens auf Abnehmer. Spät erreichen wir das Dorf Juuma. Es gibt Lebensmittel und eine Sauna. Von jetzt an wird der Pfad sehr schwierig, sagen uns die Kenner. Steile Anstiege. Wege, die im Nirgendwo enden. Orientierungsprobleme. Nichts für Greenhorns, sagt Sirpa. Sie will mit dem Bus nach Rovaniemi weiterreisen. Ich komme mit.

Wieder im Gästehaus, ein paar Finnen feiern mit Bier stillvergnügt ihre Polarkreistaufe; sie haben zum ersten Mal die unsichtbare Linie überquert und sind auf nördlichem Wege zur Fotojagd. Rentiere, Elche. Das Fest gibt es gar nicht, aber vielleicht macht es bald Schule. Gesprächig werden die Finnen nach ein paar Bier. Doch längst nicht alle, sagt Sirpa. Trinken ist in Finnland kein gesellschaftliches Ereignis. Man trinkt, um sich zu betrinken. Fertig und: Kippis! – Prost!

In Gegenrichtung sind zwei Männer aus dem Raum Aachen unterwegs. Sie haben in kürzester Zeit ihr Ziel erreicht: das Nordkap. Um dort einem in Lappentracht verkleideten Menschen ein Plüschrentier abzukaufen. Nun erst, auf dem Rückweg nach Deutschland, beginnen sie sich auf das fremde Land einzustimmen.

Der Tagesraum füllt sich. Reisende tauschen Erfahrungen aus. Wanderer geben Tipps, an welchem Ufer in Hüttennähe ein Boot deponiert ist. Mehr Bier kommt auf den Tisch, viel Kaffee dazu, gefeiert wird der gerade vergangene Sommer. Vielleicht aus Trotz, weil er einfach zu kurz ist hier oben, da trösten auch nicht die langen Tage. Irgendwann erklingt er dann: der „arktische Tango.“ Gespielt wird in Moll, und populär ist der Tango in Finnland auch heute noch. In ihm wird ausgedrückt, was sich nicht so ohne weiteres sagen lässt: Leid und Glück, Sehnsucht nach Liebe und ihre Vergänglichkeit. Oder andere schwierige Fragen. Der Tango ist der Blues der Finnen und Nebensprache dazu. „Tule tanssimaan!“ – „Komm tanzen!“ ist auch ein stiller Vorschlag, man könne es doch miteinander versuchen. Wenn auch nur für den nächsten Tanz.

„Wolken ziehn vorüber“ ist der bekannte Tango aus Kaurismäkis gleichnamigem Film. Sparsam sind seine Helden mit Worten und kommen schnell auf den Punkt. Alle seine Männer sind Cowboys, sagt Sirpa, sie kommen und gehen, wann sie wollen. Es sind Heimatlose in ihrem eigenen Land.

Kaurismäki zeichnet nach, was sich an gesellschaftlichem Wandel vollzogen hat. Noch bis vor einer Generation überwog die ländliche Lebensform in Finnland. Dann begann der Kapitalismus zu wuchern, brachte hässliche Betonklötze und eine enorme Arbeitslosigkeit hervor, sagt der Regisseur. Sagen seine Helden. Geschichten also aus einer ungerechten, falschen Welt. Und von dem bisschen Glück, das immer gerade woanders ist.

Die finnische Tourismusbranche habe Probleme mit Kaurismäkis Popularität im europäischen Ausland, heißt es. Sie befürchtet, dass den Kinobesuchern bei Ansicht all der heruntergekommenen Gegenden die Reiselust zur Mitternachtssonne und zu den Seen vergeht.

Sirpa hat sich verabschiedet, will noch in Oulu Bekannte treffen. Bald breche auch ich wieder auf, ein Stück nördlicher, dem Herbst entgegen. Ruska heißt der Farbwechsel, wenn Erlen, Eschen, Birken auflodern. Für kurze Zeit bekommt die finnische Waldeinsamkeit Farbe. Im Wechsel von Licht und Schatten entstehen immer neue Bilder. Doch der Wald ist in Finnland nie besungen worden, war nie ein romantischer Zufluchtsort. Man braucht ihn zum Leben.

Holz, Papier, Karton haben hier wesentlichen Anteil am Exportgeschäft. Es wird sogar mehr aufgeforstet, als pro Jahr geerntet wird. Theoretisch, sagen die Waldschützer. Denn es wird auch der seltene finnische Urwald geschlagen, die Lebensgrundlage der lappländischen Jäger und Rentierzüchter. Und es dauert Jahrhunderte bis zu seiner Regeneration. Ein Holzweg also. Mit Holzerntemaschinen, bordcomputergesteuert und auf mondmobilähnlichen Reifen, geht man dem finnischen Wald an den Stamm. Bataillone von Holzfällern, einst mit Axt und übermannshohen Bandsägen bewaffnet, haben längst ausgedient. Die Motorsägen nun auch. Und es ist immer ein Beruf mit traditionellem Gelenk- und Sehnenverschleiß gewesen.

Auf Lappen trifft man auch in Lappland selten. Etwa fünftausend leben im Norden Finnlands, sie selbst nennen sich Samen. Die Ureinwohner Finnlands bevölkerten einst auch den Süden. Aber wie so viele Ureinwohner dieser Welt wurden sie verdrängt. Wurden zur Minderheit gemacht, von all den Pionieren, Händlern, Abenteurern und Missionaren, die ins Land einfielen. Heute leben nur noch wenige Samen von der Natur. Sie arbeiten als Handwerker, Lehrerin oder betreiben Souvenirbuden, in denen die samische Kultur in Form von Plüsch und Plunder degeneriert. Im Nebenerwerb, vielleicht auch aus Tradition, halten sie sich oft ein paar Rentiere.

Wenn ruska verblasst – und schnell wird es Spätherbst hier oben –, dann musst du auf dich aufpassen, heißt es. Oft sind die fernen Nebelbänke nicht von Granitbuckeln zu unterscheiden. Es wird einsam im Land. Die schwierige Zeit der langen lichtlosen Tage, kaamos, Winterdunkelheit, genannt, ist nicht mehr fern. Erschreckend hoch steigt die Zahl der Selbstmorde. Besonders unter jungen Männern und in Lappland.

Bei so viel Düsternis empfiehlt sich eine Lichttherapie, wie sie die nordischen Länder in den letzten Jahren entwickelt haben. Täglich eine Lichtdusche unter dem der Sonne nachempfundenen Kunstlicht hilft bei der weit verbreiteten Kaamos-Depression. Andere schwören auf Tango. Ja, es gibt sie noch im ganzen Land, die Tanzböden. Ursprünglich und manchmal noch komplett aus Holz gezimmert. Bunte Lampen flackern. Frauen gruppieren sich auf einer Seite, Männer auf der anderen. Erste flüchtige Blicke. E-Bass, Schlagzeug, Gitarre und Akkordeon sind bereit. Eine Leuchtanzeige erleichtert den ersten Schritt. Abwechselnd leuchten „Naisten Haku“ – Damenwahl – und „Miesten Haku“ – Herrenwahl – auf. Ein erster finnischer Tango erklingt: „Wolken ziehn vorüber …“

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