: Neue Partei will Türkei regieren
Der zurückgetretene türkische Außenminister Ismail Cem kündigt eine neue pro-europäische Partei an, die über baldige vorgezogene Wahlen die Macht in Ankara anstrebt. Ministerpräsident Ecevit ernennt Gürel zum neuen Außenminister
aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH
„Wir werden die Türkei nach Europa führen.“ In seiner mit Spannung erwarteten Rede hat der am Donnerstag zurückgetretene Außenminister Ismail Cem gestern die Gründung einer neuen Partei angekündigt, in der er wohl den Vorsitz übernehmen wird. Cem redete bereits wie der neue Ministerpräsident. Auch Wirtschaftsminister Kemal Dervis, der mit Cem und dem früheren stellvertretenden Ministerpräsidenten Hüsamettin Özkan die Gründungstroika bildet, gab sich siegessicher. Der Tageszeitung Sabah sagte er: „Ich bin mir 100 Prozent sicher, dass wir gewinnen werden. Wir haben eine Vision und ein vollständiges Programm im Kopf. Wir werden die Türkei in die Superliga führen.“
Mit Cems Auftritt hat sich das Chaos der letzten Tage in Ankara etwas geklärt. Ein Großteil der aus Bülent Ecevits DSP ausgetretenen Abgeordneten wird sich der neuen Partei von Cem, Dervis und Özkan anschließen und so eine problemlose Teilnahme der neuen Formation an den kommenden Wahlen ermöglichen. Der kranke Ministerpräsident Ecevit weigert sich nach wie vor zurückzutreten. Gestern machte er den erst kürzlich zu seinem Stellvertreter ernannten Sükrü Sima Gürel zum neuen Außenminister. Erstmals räumte Ecevit ein, dass er vielleicht bald zurücktreten müsse, sollten ihn noch mehr Abgeordnete verlassen. Er wird immer mehr zu einer tragischen Figur, an dem die Entwicklung vorbeigeht. Sowohl die Nationalisten der MHP als auch das Lager um Cem werden dafür sorgen, dass die Abgeordneten der Nationalversammlung zu einer außerordentlichen Sitzung aus der Sommerpause geholt werden, um vorgezogene Wahlen festzulegen.
Das Ziel der neuen Formation ist es, die Türkei noch in diesem Jahr für den Beginn von Beitrittsgesprächen mit der EU fit zu machen. Nach Auffassung der meisten Kommentatoren ist die Gründung der neuen Partei nicht nur eine Reaktion auf die Krankheit Ecevits und dessen Weigerung zurückzutreten, sondern folgt einem seit längeren entwickelten Plan, um eine eindeutige Pro-EU-Regierung an die Macht zu bringen. Seit Monaten bestimmt die EU-Frage die politische Tagesordnung. Immer deutlicher waren die EU-Gegner zuletzt aus der Deckung gekommen. Cem und Dervis können deshalb nun sicher sein, dass sie von allen Pro-EU-Kräften in der Gesellschaft unterstützt werden. Dazu gehören an führender Stelle die Industrie, vor allem die Großkonzerne, aber auch ein Großteil des westlich orientierten Mittelstands. Auch die großen Medien, allen voran die dominierende Dogan-Gruppe, unterstützen die neue Formation.
Verbittert sind dagegen hunderttausende Opfer der Wirtschaftskrise, die durch das von Dervis und Cem vertretene Wirtschaftskonzept des Internationalen Währungsfonds (IWF) ihren Job oder wie die Bauern ihre staatliche Unterstützung verloren. Irritiert sind auch viele Intellektuelle, die sich einen Kampf für Demokratie und Menschenrechte anders vorstellen als die derzeitigen Palastintrigen. Viele halten die Cem-Dervis-Özkan-Truppe für aus Washington gesteuert, um in Ankara eine US-freundliche Regierung an der Macht zu haben, wenn der Krieg gegen den Irak beginnt.
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