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Die Spur verliert sich am Grab

aus Masar-i Scharif und ScheberganPETER BÖHM

Von den letzten Häusern der Stadt ist das Grab höchstens 500 Meter entfernt, und große Mühe haben sich die Täter nicht gegeben, ihre Spuren zu verwischen. Knapp sieben Monate nach der Tat sind sie noch leicht zu sehen. Man fährt die 130 Kilometer von Masar-i Scharif, der größten Stadt im Norden Afghanistans, in das aufgeräumt wirkende Städtchen Schebergan, wo das Bild des Kriegsfürsten Raschid Dostum an vielen Wänden hängt, fragt nach dem Viertel Pul Korasan, fährt drei Kilometer auf der Straße nach Farjab, biegt nach rechts in einen Feldweg. Nach 100 Metern schon sieht man Knochen.

Außerdem findet man dort Spuren von Lastwagenreifen und erkennt, dass auf einer Fläche von 15 mal 60 Metern die Wüste umgegraben wurde. Das übliche karge Gesträuch ist verschwunden, dafür hat ein Bulldozer seine Spuren hinterlassen. Besonders sorgfältig wurde mit ihm nicht gearbeitet. Überall verstreut liegt das, was er eigentlich verscharren sollte: Stoffhosen, lange Gewänder und schwarze Turbane, wie sie die Taliban-Kämpfer trugen. Und vor allem Knochen, Becken, Oberschenkel, Schädel und Unterkiefer, an denen noch die Barthaare stehen.

Inzwischen besteht kaum Zweifel mehr, wessen Überreste hier liegen. Die Knochen stammen von gefangenen Taliban, die im Dezember vergangenen Jahres hier vergraben wurden.

Wie die Taliban ins Grab kamen

Koordiniert und begleitet von US-Soldaten hatte die Nordallianz damals die Truppen der Taliban vertrieben; zuerst aus dem Norden des Landes. Sie zogen sich in die Stadt Kundus zurück und verhandelten dort die Bedingungen ihrer Kapitulation. Die Nordallianz aus der von Tadschiken dominierten Dschamaat-i Islami, der Hasara-Partei Hisbe-i-Wahadad und der von Usbeken dominierten Truppen Raschid Dostums behauptet, sie habe in Kundus 3.600 Taliban gefangen genommen. Nach Medienberichten machten sie dort bis zu 8.000 Gefangene. 600 davon brachten sie in eines der Truppenquartiere von Dostum, die Festungsanlage Qala Dschangi, 15 Kilometer westlich von Masar-i Scharif. Die restlichen in Dostums Hochburg Schebergan ins Gefängis. Warum die Gefangenen in die Hände des Usbekengenerals gegeben wurden, beantwortet Mohamed Sardar Saidi, Parteichef von Wahadad in Masar-i Scharif, so: der Nordosten sei noch nicht völlig unter der Kontrolle der Allianz gewesen, und das Gefängnis in Masar-i Scharif hatten die Taliban zerstört. Deshalb seien Qala Dschangi und Schebergan die sichersten Aufbewahrungsorte gewesen. Welche Rolle die USA bei dieser Entscheidung spielten – sie haben die Gefangenen verhört – ist unklar.

Kaum waren die 600 Taliban in die Festung Qala Dschangi transportiert, überwältigten sie ihre Wachen, stürmten ein Waffenlager und verschanzten sich in der Kelleranlage des Forts. Fernsehbilder des Aufstands gingen um die Welt, weil viele Kamerateams vor Ort waren, als die zur Hilfe gerufenen US-Flugzeuge die Festung bombardierten. Dostums Soldaten, erzählt Major Suraj Uddin, einer der Kommandanten der Festung, fluteten schließlich den Keller, um die Gefangenen zur Aufgabe zu zwingen. Nur 86 Taliban überlebten den Kampf. Die Toten wurden außerhalb von Qala Dschangi begraben.

Aber die Toten von Qala Dschangi sind nicht die einzigen Gefangenen von Kundus, die nie im Gefängnis von Schebergan ankamen. Dass in dem Massengrab am Rande ihres Städtchens Taliban-Kriegsgefangene verscharrt liegen, verhehlt in Schebergan auch kaum jemand. „Das Taliban-Grab meinen Sie!“, sagt der Pförtner der Gasförderanlage gut gelaunt, als wir ein Stück zu weit gefahren sind, und ein Junge, vielleicht acht oder neun Jahre alt mit einem Buch unter dem Arm weist uns den Weg – „Na dort, ja, ja, dort!“ – als fragten wir nach einem Restaurant oder einer Tankstelle.

Warum Schweigen klüger ist

Aber wenn man genauer nachfragt, wer es denn war, der die Taliban dorthin gebracht hat, werden die Leute schweigsam. Dafür müssten wir uns an den Kommandanten des nahe gelegenen Viertels wenden, rät einer. Erst ein Mann an der Straße, der mit seinem Fahrrad zwei Kanister Speiseöl transportiert, erzählt mehr: Am Ende des Ramadan, der im Jahr 2001 auf die vier Wochen von Ende November bis Ende Dezember fiel, habe er dort an der Stelle fünf oder sechs Container-LKW gesehen. Nein, Schüsse habe er keine gehört, sagt er und setzt sich wieder aufs Rad. Ob wir uns an einem ruhigen Ort hinsetzen können, fragen wir. Nein, er müsse jetzt unbedingt gehen, sagt er mit einem flehenden Blick. Nein, in sein Dorf dürften wir auf keinen Fall mitkommen. „Das müssen Sie verstehen!“ Aus seinem Gesicht spricht Angst. „Ich bin Paschtune“ – wie die meisten Taliban-Kämpfer – „niemand würde Ihnen in unserem Dorf etwas erzählen. Sie müssen wissen: Für uns Paschtunen ist es im Norden heutzutage sehr schwer geworden.“

Auch wenn einige Kriegsfürsten noch immer den Norden Afghanistans in ihrem Würgegriff haben und deshalb hier ein Klima herrscht, das es schwierig macht, Zeugen für die Ereignisse vom Ende des vergangenen Jahres zu finden, haben es einige geschafft. Der irische Journalist Jamie Doran hat im Juni die Rohfassung eines Dokumentarfilmes veröffentlicht, in dem Soldaten der Nordallianz und zwei angebliche Fahrer der Lastwagen berichten: Nach der Kapitulation der Taliban in Kundus wären bis zu 3.000 von ihnen in Container gepfercht, auf Lastwagen in die Wüste gebracht und diejenigen, die noch nicht erstickt waren, erschossen worden. Den Befehl dazu habe ein US-Offizier gegeben. An den Massakern hätten sich auch 30 bis 40 US-Soldaten beteiligt. Sie hätten die Kriegsgefangenen gefoltert, zumindest einem das Genick gebrochen und anschließend einigen die Gliedmaßen abgeschnitten.

Was man trotzdem weiß

Unabhängig davon hat die seriöse US-Nichtregierungsorganisation Physicians for Human Rights (PHR) das Massengrab außerhalb von Schebergan untersucht. Die Ärzte waren schon an gerichtmedizinischen Untersuchungen im Auftrag der UN-Tribunale für Exjugoslawien und Ruanda beteiligt. In ihrem Bericht, den sie nach Ortsterminen im Januar und Februar geschrieben haben, zitieren auch sie zahlreiche Zeugen, die gesehen haben, wie die Taliban-Kämpfer außerhalb von Schebergan von Container-LKWs abgeladen wurden. Nach einem dritten Besuch im Mai und der Veröffentlichung von Dorans Dokumentarfilm gingen sie mit einem weiteren Detail an die Öffentlichkeit. Zuvor war es ohne Bedeutung erschienen, nun aber stützt es die Recherchen des irischen Journalisten. Die Ärzte haben an drei Leichen in dem Grab eine Autopsie vorgenommen. Alle drei sind demnach erstickt. Und wem die von Doran verbreitete Zahl von bis zu 3.000 ermordeten Taliban-Kämpfern übertrieben erscheint: Nach zuverlässigen Informationen gibt es in der Nähe des Flughafens von Schebergan noch ein weiteres Massengrab mit Taliban-Kämpfern. Der von Dostums Truppen kontrollierte Flughafen ist allerdings militärisches Sperrgebiet, und man kann dort nicht hinfahren, ohne sich in Gefahr zu begeben.

Dass sich US-Soldaten an solchen Gräueltaten beteiligt haben, erscheint vielen Afghanen noch unfassbarer als einem Europäer. Für viele ist die Invasion der US-Armee eine glückliche Fügung der Geschichte, die sie möglicherweise von der jahrelangen Herrschaft der Mudschaheddin-Warlords und der Taliban befreien wird. Und so schüttelt jeder, wenn man ihn fragt, ob Amerikaner an den Massakern beteiligt waren, ungläubig den Kopf. In der Nähe des Grabes will sie auch niemand gesehen haben.

Aber dass vor gut sechs Monaten im Norden Afghanistans eine Atmosphäre der straflosen Vergeltung geherrscht haben muss, zeigt sich deutlich an einem anderen Massaker. Offenbar haben es Milizionäre der Hasara-Fraktion Hisbe-i-Wahadad begangen. Sie haben sich bisher keine Mühe gegeben, ihre Tat zu vertuschen, sondern sich sogar damit gerühmt.

Der Verdacht gegen die USA bleibt

Sie hatten auch Gründe dazu. 1997 und dann 1998, als die Taliban bei ihrem zweiten Angriff schließlich Masar-i Scharif einnahmen, richtete sich ihre Wut vor allem gegen die ethnische Gruppe der Hasaras. Mehrere tausend Menschen, vor allem Zivilisten, massakrierten sie in der Gegend um Masar-i Scharif. Ihre Gräber sind überall in und um die Stadt verstreut. Eines liegt in Sichtweite der ehemaligen Sowjetkaserne Bese Sockta. Im Tod vereint liegen an dem einen Ende eines ursprünglich zur Vergrößerung der Kaserne angelegten Grabens die Toten des nahe gelegenen Hasara-Dörfchens Qasilabad, am anderen die Leichen der Taliban. Ein junger Mann, der in der Nähe auf eine Herde Schafe aufpasst, erzählt ungerührt, dass die Taliban seine ganze Familie, Vater, Mutter und Bruder erschossen und hier abgeladen haben. Und von wem sind die Knochen am anderen Ende des Grabens? „Die sind von 100 pakistanischen Taliban.“ Wie weiß er das? „Na, die Wahadad-Soldaten aus Bese Sockta haben mir doch selbst erzählt, dass sie sie hier erschossen haben.“

Dass sich die Kämpfer der Nordallianz an den Taliban gerächt haben, steht also außer Zweifel, und dass die Amerikaner davon nichts bemerkt haben, ist unwahrscheinlich. Bleibt die Frage, ob sich auch US-Soldaten an den Massakern beteiligt oder sie sogar befohlen haben. Um das zu klären, müssten die Massengräber um Masar-i Scharif genau untersucht und Zeugen gehört werden. Solange Dostum und die anderen Kriegsfürsten den Norden kontrollieren, wird das nicht gehen. Und solange die US-Regierung alle Anschuldigungen gegen die Soldaten ihres Landes vehement abstreitet, nur durch starken politischen Druck. Aber so lange wird auch der Verdacht gegen sie weiter im Raum stehen bleiben.

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