: Sitzung bei Freud
Ganz traditionell platziert Lucian Freud seine Modelle im Atelier und doch resultiert daraus eine Porträt- und Aktmalerei, die die langwierige malerische Studie sehr zeitgenössisch erscheinen lässt. Die Tate Britain widmet ihm jetzt eine Retrospektive
von BRIGITTE WERNEBURG
Lucian Michael Freud wurde 1922 in Berlin geboren. Elf Jahre später siedelte seine Familie nach Großbritannien über, wo sie sich in London niederließ. Der Enkel Sigmund Freuds wurde Künstler. Er malt, vornehmlich Porträts und Akte. Dazu holt er sich nun schon seit Jahrzehnten seine Freunde, Nachbarn, Kollegen, seine Mutter, seine Ehe- und sonstigen Frauen samt seiner wenigstens neun Kinder plus deren Freunde, Kinder und Hunde ins Atelier. Lucian Freud wird als einer der bedeutendsten lebenden Maler gehandelt. Bemerkenswerterweise nennt kein Berliner Museum einen Freud sein Eigen. Dabei erfreut sich die Malerei hier stetiger großer Wertschätzung. Eine Wertschätzung, die in Kreisen, die hart am Kurs der künstlerischen Trends segeln, dem Ruf der Stadt schon fast abträglich ist. Ganz auszuschließen ist es freilich nicht, dass in einem Berliner Zimmer doch ein Freud an der Wand hängt. Immerhin wurde hier vor 14 Jahren bei seiner Werkschau in der Neuen Nationalgalerie ein Porträt gestohlen, das der Künstler 1952 von seinem Freund Francis Bacon gemalt hatte. Erst kürzlich, anlässlich der Eröffnung seiner bisher umfassendsten Retrospektive in der Tate Britain am 20. Juni, bat Lucian Freud in einem besonderen Aufruf darum, ihm das kleine 17,5 x 12,8 Zentimeter messende Gemälde zurückzugeben: Er hoffe darauf, es noch in die Ausstellung einfügen zu können.
Auch das Porträt des Supermodels Kate Moss soll noch dazukommen, sofern es der fast 80-jährige Maler innerhalb der nächsten drei Monaten fertigstellt. Obwohl es außer den Beteiligten noch niemand gesehen hat, ist das Bild längst Talk of the town. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Kate Moss schwanger ist und Lucian Freud nicht nach Fotografien, sondern eben nach dem lebenden Modell malt. Ein Hauch von Skandal begleitete schon immer seine Bilder, was aus der autobiografischen Anlage seines Werkes rührt. Seine Töchter entdeckt er in Centerfold-Posen, und in den erst jüngst entstandenen Bildern findet sich Freuds derzeitige, 50 Jahre jüngere Geliebte. In der Abfolge der 130 Bilder der Schau – die meisten aus Privatbesitz, darunter 12 neue Arbeiten und 30 weitere, die noch nie ausgestellt waren – ist kaum je ein professionelles Modell auszumachen. Eigentlich hatte nur Leigh Bowery, eine bekannte Figur der Londoner Club- und Subkultur, der 1994 an Aids starb, mit seiner Erscheinung schon zuvor Geld verdient. Bowery war ein Klotz von einem Mann, dessen massige, monumentale Nackheit Freud so überdimensional auf die große Leinwand brachte, dass er am Ende an das ursprüngliche Format weitere Leinwandstreifen anstückeln musste. Wie in den 60ern, als Freud von seinen feinen zu breiten Pinseln überging, wurde seine Malweise zu Beginn der 90er noch einmal ausdrucksstärker und kühler zugleich. Mit den Aktgemälden Bowerys und „Big Sue“ Tilleys, einer immens fettleibigen Angestellten vom Gesundheitsamt, wurde Freud über den engeren Anhängerkreis hinaus weithin bekannt. Was aber das Museum of Modern Art 1994 nicht abhielt, eine Freud-Ausstellung bei sich abzulehnen – zu realistisch erschien seine malerische Haltung.
Tatsächlich ist etwas Erbarmungsloses in den Porträts dieser dicken nackten Frau zu erkennen; allerdings: dieser grausame Zug ist auch schon in allen früheren Gemälden zu entdecken. Sie liegt in dem enorm interessierten und dabei doch ebenso distanzierten Blick, mit dem Freud dem nackten menschlichen Körper begegnet. Steht man nun in der Tate Britain vor „Sleeping by the Lion Carpet“ (1996), dem Bild der mächtigen, in einem Sessel hingegossenen Frau, ist man sich absolut sicher, dass Freud (wie wir selbst) einfach wissen wollte, wie sich bei einem dicken Menschen eigentlich die Fettmassen stapeln; in welcher Form der Körper noch kenntlich ist; wie die überdehnte Haut leidet. In den kräftigen Pinselstrichen, die Freud auf die Leinwand setzte, ist nun ohne weiteres zu erkennen, dass auch dieser massige Körper seine Form bewahrt, wenn auch in einer hilflos überbordenden Art; seine Farben berichten von der empfindlichen Haut, ihren schnell geholten, blauen Flecken, den wundgeriebenen Stellen. Zugleich meint man die Zufriedenheit zu sehen, die Freud erfüllt, weil er sehen darf, was er sehen wollte. Sie scheint atmosphärisch in den pastosen, bildhauerisch gesetzten Pinselschwüngen in das Bild hineingeflossen zu sein. Auch „Sleeping by the Lion Carpet“ zeichnet jene friedliche, ungenierte Privatheit aus, die man in anderen Bildern Freuds zu sehen glaubt und die sich seiner freundschaftlichen und wohl auch kompromissbereiten Haltung verdanken muss. Anders ist nicht vorstellbar, dass sich Big Sue – wie all die anderen Porträtierten – Tag für Tag und Woche für Woche für ihre Sitzung bei Freud einfand.
Big Sue lässt sich bei Freud als vollkommen zeitgenössischer Akt entdecken, als ein aktueller Körper, wie man ihn erst am Ende des 20. Jahrhunderts malen kann, weil er in dieser Zeit ein alltäglicher Körper geworden ist. Obwohl die für sein Werk charakteristische Konstellation im Atelier über die Jahrhunderte letztlich die gleiche blieb, erscheint sie bei Freud durchaus zeitgemäß. Der nackte Mensch, von dem man meint, er verändere sich wenig im Lauf der Zeiten, steht oder liegt eben doch anders. Der Blick des Künstlers ist durch die Kameraperspektiven unseres Medienalltags geprägt, die Mädchen haben blau lackierte Fußnägel. Der Gestus auf beiden Seiten ist lässiger geworden, der Künstler malt eben mal seine Füße mit ins Bild, so wie er sich ein anderes Mal beim Akt seines Sohns „Freddy Standing“ (2001) in der dunklen Fensterscheibe spiegelt. So etwas passierte Rainer Werner Fassbinder in seinen Filmen, dass man den ganzen filmischen Apparat – illusionstechnisch falsch – im Fenster bewundern konnte. Dass sich Freud wegen dieses keineswegs peniblen, eher wahlweise aufscheinenden Realismus der Ateliersituation in seinen Bildern auch einmal besorgt fragte: „Tropft der Wasserhahn nicht zu laut?“, ist trotzdem nachvollziehbar. Und eigentlich nur konsequent ist es, wenn er immer wieder, wie zuletzt in „After Cézanne“ (2000), eine – für ihn ungewöhnlich narrative – Atelierszene eines früheren Meisters übernimmt.
Damit scheint man ihn wieder bei seinen Anfängen anzutreffen, etwa dem „Interior in Paddington“ (1951), das einen Freund in Straßenkleidung neben einer Yuccapalme zeigt und in seiner feinen Malweise und dem diffusen, klaren Licht nach Christian Schad gemalt sein könnte. Manchmal, bei seinen Pflanzengemälden, etwa dem Bild „Two Plants“, das Ende der 70er-Jahre entstand, findet sich diese feine Malweise auch später wieder. Doch seine Entwicklung liegt eben in einer Malweise, die zu einem immer massiveren Farbauftrag tendiert, der heute geradezu knorrig wirkt – wie der Mann selbst – in dem Porträt, das Freud zuletzt von sich malte und direkt von der Leinwand weg in die Tate-Retrospektive hängte. Der Umgang mit der Farbe ist es, der heute die Annäherung an das malerische Porträt wieder attraktiv macht. Denn selbstverständlich sind wir in unserem Alltag von Abbildern des Menschen umstellt. Doch die glatte Oberfläche der Werbe- und Modefotografie, die dem Porträt das Pathos nimmt, weil sie suggeriert, sie kenne den Menschen nur in der Momentaufnahme, in einem kurzen, kontingenten und nicht weiter bedeutungsschweren Augenblick, lässt die langwierige malerische Studie wieder interessant werden. Wie werden wir Kate Moss sehen, nachdem sie Lucian Freud malte? Es sollten jetzt eben noch zwei weitere Bilder in die Tate kommen.
Bis 22. September, Tate Britain London, Katalog 24,99 £
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