: Im Auto ins Gestern
Dementenstation bei pflegen & wohnen hat ein Auto bekommen. Zum Putzen, Hupen und Wohlfühlen
„HH - WB 7“, liest Ernst Majoor und lacht. Robert Neehus ist Nordfriese, alles über fünf Menschen ist ihm zu viel. Anneliese Könnecke läuft auf den Wagen zu und lässt sich hinter dem Steuerrad nieder, ihre lila Plüschkuh auf dem Schoß. Es dauert nicht lange, da sind alle Plätze besetzt, zwei vorne und zwei hinten. Es könnte los gehen. Doch der Audi hat weder Öl noch Benzin, er steht auf einer Wiese und dient nicht dem Transport, denn Ernst Majoor, Anneliese Könnecke und die anderen fahren nur im Kopf. Sie sind Zeitreisende zwischen den Welten. Mal sind sie vier, mal vierzig Jahre alt. Selten fühlen sie sich so alt, wie sie sind, nämlich zwischen 70 und über 90.
Etwa 20.000 Demenzkranke leben in Hamburg, 27 von ihnen auf der Spezialstation bei pflegen & wohnen in Heimfeld. Ein Schrotthändler, dessen Frau dort als Altenpflegerin arbeitet, hat ihnen den Audi geschenkt. Eine andere Firma hat ihn kostenlos per Kran über den Zaun auf die Wiese neben der Station D gehoben. Hier soll er nun Teil der Therapie werden. Studien in den USA, Kanada und Irland haben gezeigt, dass vor allem demenzkranke Männer „nicht so sehr an Hausarbeit interessiert sind. Sie mögen Waffen – das schien uns ungeeignet – und Autos“, erklärt der Neurologe Jan Wojnar. Autos symbolisierten Leistungsfähigkeit und Unabhängigkeit. Dabei müssen sie mit dem Wagen gar nicht fahren. Es reiche, wenn sie ihn waschen, prüfen, ob alles funktioniert, abends das Licht einschalten und mal auf die Hupe drücken. „Es gibt ihnen das Gefühl, wieder leistungsfähig zu sein“, erklärt der Arzt.
Und das steigert ihr Selbstbewusstsein und damit ihr Wohlbefinden. „Was wir durch die Therapie erreichen, können wir weniger an Psychopharmaka einsetzen und damit die Nebenwirkungen reduzieren“, sagt Abteilungsleiter Joachim von Fintel. Die Spezialstation arbeitet mit einem Betreuungsschlüssel von 1:1,7. Da ist Zeit für die erforderliche Nähe. Viele Demente fühlten sich innerlich wie maximal 40. „Deshalb erkennen sie auch ihre Verwandten nicht, die sind viel zu alt“, erklärt von Fintel. Wie kann ein 40-Jähriger eine 60-jährige Tochter haben? Weil sie sich trotzdem nach Familie anfühlt, wird aus ihr dann vielleicht die Tante. Die Dementen leben in ihren alten Rhythmen: „Viele wollen jeden Tag gegen 17 Uhr nach Hause gehen“, sagt er.
Das Personal muss verhindern, dass sie es tun. Und zwar mit Überredung: Die Frauen wollen gehen, weil sie denken, sie müssen Essen vorbereiten. „Ach, jetzt habe ich schon Abendbrot für uns gemacht“, ist dann ein Argument, was sie zum Bleiben veranlasst, schließlich kann man nichts wegschmeißen.
Anneliese Könnecke hat den Beifahrer-Sitz ausprobiert, ihn aber schnell wieder verlassen: „Der, der da am Steuer sitzt, kann gar nicht fahren. Das ist mir zu gefährlich.“ SANDRA WILSDORF
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen