Die heimliche Pasionaria der Bewegung

Esther Dayan-Ulivelli war fasziniert von der Idee, das Schöne und das Revolutionäre zu verbinden. Zumindest für sich. 83-jährig verstarb sie

Nur auf U-Bahn-Stationen begegneten wir uns. Görlitzer Bahnhof, Wittenbergplatz, Zoologischer Garten. Wir fuhren ein Stück zusammen, bis sich die Wege trennten. Immer sind die Begegnungen zufällig, aber durch Zufall regelmäßig. Mehr als zwanzig Jahre geht das so. Nun aber habe ich eine Weggefährtin verloren. Im Wörtlichen, denn nur auf dem Weg waren wir Gefährten.

„Wie geht es dir? Kommst du über die Runden“, fragte sie, sobald wir uns trafen. Sie konnte die Armut der anderen nicht ertragen. Ihre eigene wohl. Ich dagegen sagte ihr, dass sie schön sei. Die schlohweißen Haare umspielten das zarte, fast faltenlose Gesicht. Ihr fragiler Körper steckte in T-Shirts, Trägerkleidern, Jeans, schlackernden Hosen, auffallenden Mänteln. Meist trug sie Schuhe mit hohen Absätzen. Auch im Winter. So kamen wir uns näher, ohne je die Distanz zu verlieren.

„Kommst du über die Runden?“ wird sie fragen und den Verlust von Gemeinsinn in der Gesellschaft beklagen. „Esther, was macht dich so schön?“, werde ich im Laufe des Gesprächs sagen. Sie wird abwinken. „Wichtig ist es, sich selbst treu zu bleiben.“ Ein Ratschlag, den sie mir zum Abschied zuwinkt. Zwischendurch wird sie für Sekunden ihre Hand auf meinen Arm gelegt haben.

Es bedarf hartnäckigen Nachfragens, um sie zu bewegen, in den Gesprächen in der U-Bahn Mosaikstücke ihrer Geschichte preiszugeben. 1918 geboren, wächst sie bei einer Großmutter auf. Ihre Eltern starben früh. Sie setzt durch, dass sie bereits mit 14 von zu Hause ausziehen darf, und beginnt bei der Tobias Film Kunst zu arbeiten. Bei der Beerdigung wird man sagen, dass sie sich schon so jung nicht verbiegen lassen will. Später wird sie eine der besten Cutterinnen in der Stadt.

Als Jüdin hat sie in Deutschland Faschismus und Krieg überlebt. „Wie?“ Sie wehrt ab, sei als Deutsche durchgegangen, auch als Italienerin. Sie hatte italienische Vorfahren. Noch vor Ende des Krieges heiratet sie den Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre. „Der große Wagen ist umgekippt / schief, deichselabwärts, so hängt er über der Kiefer am Waldrand“, wird eines seiner späteren Gedichte beginnen, in denen er die Machtlosigkeit des Dichterwortes gegen die soziale Kälte beschreibt. Esther bekommt einen Sohn. Die Ehe scheitert. Sie zieht das Kind alleine groß. Heiratet noch einmal, bekommt den zweiten Sohn und trennt sich wieder. Geschieden, allein erziehend in den 50er-, 60er-Jahren. Hartes Brot.

Gern war Esther Dayan-Ulivelli anderer Meinung. Schwer dürfte ihr das nicht gefallen sein, suchte sie doch im Hässlichen das Schöne, im Warmen das Kalte, im Neinsagen das Jasagen, in der Ästhetik die Revolution, im Kind den Erwachsenen, in der Gegenwart die Vergangenheit.

Da kamen der damals 50-Jährigen die Studentenrevolten der 68er recht. Hier wurde in Frage gestellt, was sie falsch fand. An allen sich daran anschließenden Aufbrüchen – an Antiatomkraft-, Frauen- und Friedensbewegung, dem politischen Kampf – wird sie ihre Radikalität, ihr anarchisches Begehren testen. Sie wird sich für alle entscheiden und von keiner vereinnahmen lassen. Das lässt ihr die größtmögliche Freiheit. Ende der 60er-Jahre wird sie zudem als Dozentin an die Deutsche Film- und Fernsehakademie berufen, damals ein Ort, wo der Aufstand gegen eingefahrene Sehgewohnheiten geprobt wurde.

Großzügigkeit und die immer währende Suche nach dem Ästhetischen sollen sie ausgezeichnet haben. „Alles um sie herum war schön“, sagt die Künstlerin Sarah Schumann auf der Beerdigung. Sie kannte Esther Dayan von „Brot und Rosen“. Jener Frauengruppe, der die Berlinerinnen in den 70er-Jahren den Einstieg in die Emanzipationsbewegung zu verdanken haben. „Sie fand uns nicht radikal genug.“ Es wird sich zeigen, dass Schumann, wie viele der Trauergäste, Weggefährten wie ich waren. „Man kannte sich, traf sich“ und trennte sich, um sich irgendwann, oder nie mehr, wieder zu begegnen.

Gelebte Radikalität und Gesellschaftskritik fand Esther Dayan-Ulivelli am stärksten bei ihren Freunden und Freundinnen aus dem politischen Kampf verwirklicht. In deren Sinn, aber immer auch in ihrem eigenen, sprach sie auf Demonstrationen. Für sie sorgte sie, wenn sie gescheitert waren. Ihr größtes Wagnis: Die Wohnung, in der Peter Lorenz bei seiner Entführung versteckt war, war auf ihren Namen angemietet. So wird sie die heimliche Pasionaria der Bewegung. Nicht als Heldin, sondern als eigensinnige Diva. Weil sie eine echte Berlinerin ist, kehrt ihr die Stadt dabei den Rücken zu. Bei unseren Begegnungen wird sie sich einmal bitter beklagen, dass sie in Berlin keine Gleichaltrigen findet, mit denen sie politische Kritik üben kann. „Dafür muss ich nach Rom, nach Paris, nach New York fahren.“

In den letzten Jahren traf ich sie meist auf dem Weg nach Tegel. Sie betreute die Gefangenen. Ihre „Schützlinge“. Schon weit über 80 ist sie, als ich sie zum letzten Mal am U-Bahnhof Hansaplatz treffe. In ockerfarbenem Ledermantel und hohen Schuhen schleppt sie eine schwere Tasche. „Lass sie mich für dich tragen“, sage ich. Erschöpft erlaubt sie es mir. In der Tasche sind die schmutzigen Klamotten der Gefangenen, die sie für sie wäscht. Einige, denen sie Weggefährtin war, gar „die ganze 2.-Juni-Korona“ wie eine Insiderin sagt, schauen in der Trauerhalle noch einmal auf das schön geschminkte, müde Gesicht.

Nur Efeu wird auf ihrem Grab wachsen, wie auch auf den Gräbern daneben. Kein Name, kein Stein. Nichts soll an sie erinnern. Sie wollte es so. Anonym werden im Tod. Sich und ihre Geschichte verwischen. Sich ein letztes Mal begegnen und dann trennen. Auf dem Weg zum Grab spielt ein Akkordeonspieler Tango.