Von Schläuchen und Schnüren

Versuche in Formlosigkeit: Das Werk der deutsch-amerikanischen Künstlerin Eva Hesse ist schwer zu greifen, noch schwerer erweist sich die Konservierung. Das Museum Wiesbaden zeichnet in einer Ausstellung ihren künstlerischen Lebensweg nach

von ULF ERDMANN ZIEGLER

Anfang 1970, als sie nur noch wenige Monate zu leben hatte, gab Eva Hesse ein ausführliches Interview zu ihrem Leben und Werk. Zuerst befragte die Kunstkritikerin Cindy Nemser sie nach ihrem familialen Hintergrund, eine wichtige Frage für die Nachwelt, die eine Künstlerin mit deutschem Namen und amerikanischem Curriculum würde zuordnen wollen. Hesses Antwort ist lang, komisch, haarsträubend und ergreifend. Sie erzählt die Geschichte eines 1936 in Hamburg geborenen jüdischen Kindes, das von Notunterkunft zu Versteck zu Krankenhaus herumgereicht wird und schließlich als Dreieinhalbjährige mit einer Familie in New York an Land geht, die alsbald zerbricht. Sie erzählt die Geschichte als Slapstick, von der Auslöschung der restlichen Familie im Holocaust über den Selbstmord der Mutter bis zum Hirntumor der Stiefmutter, ein „Miststück“ gleichen Namens, das wie ein Menetekel ihren eigenen Hirntumor mit dreiunddreißig Jahren antizipiert: „Ich glaube, meine Familie ist irgendwie den Kennedys ähnlich. Ich meine, wir haben nicht so viel Besitz und Vermögen, aber auch bei uns war immer alles extrem.“

Fehlende Angst

Mit sechzehn zeichnete sie im Pratt Institute, absolvierte Josef Albers’ Farblehre an der Cooper Union, und mit 23 Jahren hatte sie ihren B. A. in Yale gemacht. Das war 1959. Elf Jahre später, von den Gespenstern der Vergangenheit bedrängt und von zwei Hirnoperationen geschwächt, kommt sie zu dem Schluss: „Kunst ist die einfachste Sache in meinem Leben, das ist das Ironische. Ich meine, ich habe nicht wenig dafür gearbeitet, aber es ist die einzige Sache, die ich nicht machen musste. Vielleicht bin ich deshalb so gut. Ich habe keine Angst.“

Weil sie mit kargen Materialien innovativ arbeitete, wurde sie mit den rasch hoch geschossenen Exponenten der Minimal Art verglichen oder dieser noch frischen Schule sogleich zugeschlagen. Tatsächlich verbindet sie mit Leuten wie Serra, André, Judd und Morris, dass keiner von ihnen Bildhauerei studiert hatte, obwohl sie vornehmlich dreidimensionale Objekte herstellten, die sie aber nicht der Skulptur zurechneten. Die Minimalisten gaben ihre sanften Formen (gefalteter Filz) und ihre formalen Experimente (geworfenes Blei) bald auf und versuchten stattdessen, sich mit technokratischer Geste Autorität zu sichern. Eva Hesse ist dagegen näher am Claes Oldenburg der Sechzigerjahre mit seinen groben Warenimitaten und den „weichen“ Fassungen komplexer Gegenstände. Weil ihre Skulpturen versponnen, fragil und von organischer Gestalt sind, liegt es nah, Hesses Werk gegenüber den Zeitgenossen als „weiblich“ abzusetzen. Davon aber wollte die Künstlerin – die schon bald mit männlichen Assistenten arbeitete – nichts wissen.

Lasso in den Raum

Die Sprunghaftigkeit ihrer Ideen kontrastiert mit dem Aufwand in der Ausführung, und dieser Aufwand kontrastiert wiederum mit dem gezielten Versuch, die Gebrochenheit der Form und nicht ihre Ganzheit darzustellen. Das Auffälligste an Hesses Arbeiten, die nun in der umfangreichen Ausstellung des Museums Wiesbaden präsentiert werden, sind die Schläuche und Schnüre, die sich ihnen entwinden und wie vergessene Kabel am Boden ringeln oder wie Überbleibsel von Takelage in einem Zustand nur halbwegs etablierter Ordnung aufgegeben worden sind. Die Schläuche und Schnüre verschwinden in Objekten, die dadurch zu Halterungen degradiert werden. Die Polarität von Ding und Auswuchs hat sie in „Hang Up“ (1966) illustriert, einem großen umwickelten Rahmen, aus dem ein gewaltiger Draht wie ein erstarrtes Lasso in den Raum wächst, um an anderer Stelle wieder im Rahmen zu verschwinden: eine buchstäbliche Falle. Man sieht daran deutlich, vielleicht noch zu deutlich, die Arbeit an der Konstruktion eines Hybriden.

Ihre Arbeiten waren beim Publikum schon immer derart beliebt, dass es die Finger davon nicht lassen konnte. Das liegt nicht nur daran, dass man die Fertigkeit der Herstellung noch spürt. Es sind die leicht gruseligen Aspekte von Leiblichkeit, die den Skulpturen eigen sind, in ihren Antinomien von Rumpf und Gliedmaßen, Prallheit und Schlaffheit, Bewegung und Stillstand. Dabei drängt sich manchmal die Idee der Körpermaschine in den Vordergrund, dann wieder dominiert die Vorstellung (oder Obsession) einer „sterblichen Hülle“.

Sechs Jahre brauchte Eva Hesse nach ihrem Studium, um sich an die Skulptur zu wagen, die man damals in Deutschland „Plastik“ nannte. Das Museum Wiesbaden zeigt ausführlich die Vorgeschichte. Es besitzt selbst eines ihrer großformatigen Ölgemälde von 1961, das aussieht wie eine Kombination von Robert Motherwell und Jim Dine: eine begreifliche Turbulenz zwischen abstract expressionism und Popidiomen. Es gelingt ihr, sich dem Einfluss beider Strömungen zu entziehen. In eiserner Disziplin entstehen Zeichnungen, Aquarelle, Collagen und Mischformen, und zwar in ausführlichen Serien, die man nur als Methodenprüfung deuten kann. Während sie Farbfelder und Schwärzungen immer im Griff hat, hadert sie mit der Konkretion der Linie. In einer Serie von Gouachen sperrt sie in sorgsam begrenzte Felder wuchernde Anatomien, eine Art Comicfassung Picasso’scher Formen. Die Katalogautorin Renate Petzinger liest darin einen „Kinderwunsch“, und die Idee ist vor den Bildern nicht so abwegig, wie sie zunächst klingt. Jedenfalls kulminieren ihre Versuche 1965 in zwei extrem unterschiedlichen Werkgruppen, eine Serie von kargen Tuschzeichnungen auf weißem Grund, die in wilder Metaphorik Maschinenteile skizzieren. Die andere Serie wagt in grellbunten Reliefs – Hesse sprach von „Materialbildern“ – den Vorgriff auf die Skulptur: ein frivoler Abschied vom Bild mit spürbarem Schub aus der Schrottästhetik Tinguelys und Op-Art-Kick.

Reliefs aus der Halle

Damals war ihr Ehemann, der Bildhauer Tom Doyle, von einem deutschen Industriellen für ein Jahr eingeladen worden nach Kettwig an der Ruhr. Als Atelier diente eine Halle mit ausgedienten Webmaschinen, also metaphorisch genau die Verbindung von maschinellem Detail und leiblichem Bezug, den Hesse elaborieren sollte. Sie kehrte mit Dias ihrer Reliefs nach New York zurück und wurde sofort integriert in das kuratorische Netz jener neuen Bewegung, die sich mit Primärstrukturen, als Konzept- und/oder Landschaftskunst neu erfand: die „formalistische“ Korrektur der emblematisch lüsternen Pop Art.

Das Museum Wiesbaden hat sich unter Leitung von Volker Rattemeyer der „stillen Avantgarde“ verschrieben. Dem Rückblick auf das Werk von Hesse ist eine Retrospektive auf das Farb-Werk von Gotthard Graubner vorausgegangen. Die Ausstellung „Eva Hesse“ entstand in Kooperation mit dem MoMA San Francisco, mit Elisabeth Sussmann als dortiger Gastkuratorin und mit Renate Petzinger als Kuratorin des Hauses hier. Die letzte Station wird die Tate Gallery in London sein. In Wiesbaden hat man sich mit einer ständigen Abendöffnung auf das reisende Publikum eingestellt.

Im Format der Doppelseite bringt der Wiesbadener Katalog zwei wichtige historische Fotografien. Das erste Bild zeigt eine Ansammlung kleinteiliger Extremskulpturen in ihrem Atelier an der Bowery, 1966, eine Werkgruppe, die im Katalog als „Ballons und Netze“ klassifiziert wird. Das zweite Bild von 1973 gibt einen Blick frei auf eine imposante Installation im Pasadena Art Museum, dominiert von einer 13-teiligen Wandarbeit mit dem Titel „Expanded Expansion“, einem Latexvorhang mit ungewöhnlich schwerem Faltenwurf. Daran sieht man Hesses spezielle Wendung zur großen Form. Es war nicht ihr Programm, aber sie nahm es in Kauf, dass einige ihrer besten Arbeiten – alles, was mit handgeschichtetem Gummi zu tun hat – sie nicht einmal um Jahrzehnte überleben würden.

Insofern muss man sich eine Retrospektive Hesses als Springen von Scholle zu Scholle vorstellen. So wie die Arbeiten, die vorhanden sind, in sich Vermittlungsinstanzen auslassen, beziehen sich die vorhandenen Arbeiten zudem auf ein ephemeres Werk, um dessen Rettung Restauratoren in den verborgenen Kammern der Museen hilflos bemüht sind. Kabelsalat, in Tau gewickelte Ballons, Reliefs mit Propellern aus Draht und Schnur: Allein fünf Restauratorinnen sind für die ausgestellten Werke in Wiesbaden involviert.

Bei aller berechtigten Vorsicht ist es dennoch schade, dass das Centre Pompidou die andere Arbeit aus der Installation in Pasadena, die „Seven Poles“, nicht mehr reisen lassen will. Denn die eigenartigen, emporragenden, bandagierten L-Formen sind immerhin aus Fiberglas und Polyesterharz geschichtet und gegossen, so wie fast alles aus Hesses letzter Werkphase: Sie sprach davon, Dinge „geschehen zu lassen“. Wiesbaden zeigt, vielteilig schwebend unter einer gewaltigen Kuppel, die „Connection“ von 1969 – Hesses extremster Versuch in Formlosigkeit, bildlich etwa eine Sammlung abgestreifter Häute. Aus Philadelphia wurde die Gruppe der „Tori“ ausgeliehen, eine gelbgrünliche, vielteilige Bodenarbeit mit dem Charme aus Saurierdärmen gewonnener Handtaschen. Und aus dem holländischen Otterlo kommen die fünfzig unregelmäßigen Röhren, die unter dem Titel „Accretion“ an die Wand gelehnt sind, Schranke, Passage, Werkzeug und Bild zugleich. Der Titel bedeutet nach Dictionary: „the growing of separate things into one“.

Jenseits der Skulptur

Zusammengewachsen produzieren ihre Skulpturen Ambivalenzen und Paradoxe. Sie sind absichtlich nur fast das, was sie idealerweise wären. Hesse dachte auch so. Frage von Nemser: „Hast du mit der Tradition der Skulptur gebrochen?“ – Hesse: „Nein, denn ich mache keine traditionelle Bildhauerei.“ Auf die Antwort muss man erst einmal kommen.

Als Zeichnerin blieb sie dem Gedanken der Serie treu und verschärfte zugleich ihre Systematik. Ein ganzer Raum zeigt ihre seltsamen Studien von Kreisen, oft Dutzende auf einem Blatt, penibel gestapelt, und ein jeder in individuell abgetönten Ringen montiert: „NY-cool“, 1967. Eva Hesse war doch noch Amerikanerin geworden.

Ihr Werk, so schwer zu greifen, hat nachgewirkt. Den Funken elektrischer Leiblichkeit verzauberte Rebecca Horn in einen Diskurs über Hysterie; Hesses Gummiversuche mit Form und Gegenform hat Rachel Whiteread in Architektursprache übersetzt. Und wo auch immer die „weiche Skulptur“ auftaucht, ist Hesse Inspiration, Gewährsfrau, Patin.

Eva Hesse nahm damals teil an Harald Szemanns wegweisender Ausstellung „When Attitudes Become Form“, wobei sie besser als jeder ihrer Konkurrenten den Konnex von Grundeinstellung und Formwerdung – Kunst und Leben – verkörperte. Bis ans Ende ihrer Zeit – die Sixties – saß sie als Idealmodell einer modernen Frau in ihrem Atelier, dem einzigen Ort, an dem sie Angst nicht kannte. Auch die Perücke, die sie dann tragen musste, hat ihr gut gestanden.

„Eva Hesse“. Museum Wiesbaden, bis 13. Oktober. Danach: Tate Gallery London, 12. November bis 9. März 2003