Ein Déjà-vu und doch ganz anders

Ein Jahr nach den G-8-Gipfel-Demonstrationen, bei denen es einen Toten gab, kommen in Genua über 100.000 Menschen zu einem Gedenk- und Protestmarsch. Polizei hält sich zurück. Gewerkschafter begeistert begrüßt, Linksdemokraten ausgepfiffen

aus Rom MICHAEL BRAUN

Erwartet worden waren 20.000, höchstens 30.000 Teilnehmer zum Protest- und Gedenkmarsch ein Jahr nach dem Tod Carlo Giulianis während des G-8-Gipfels von Genua. Es kamen weit mehr als 100.000 (dies die von Polizei und Berlusconi-Blättern verbreitete Zahl): Zehn Kilometer lang war der Zug, der sich am Samstag um 18 Uhr durch die Stadt bewegte, hinter dem Transparent „Carlo im Herzen – unsere Zukunft ist keine Ware“.

Nicht nur die mächtige Demo erinnerte an Genua vor einem Jahr. Auch die weitgehend menschenleere Stadt, die geschlossenen Geschäfte, die mit Holz- und Metallplanken verbarrikadierten Schaufenster der Banken war wie ein Déjà-vu. Ansonsten aber lief alles anders. Diesmal gehörte den Demonstranten das – seinerzeit als „Rote Zone“ hermetisch abgeriegelte – Stadtzentrum. Die Polizei hielt sich äußerst diskret zurück, und die Protestierenden konnten ihren Marsch friedlich über die Bühne bringen.

Friedlich verlief auch die kleine Demo der „Antagonistischen“ Kräfte, die mit ein paar hundert Leuten zeitgleich zum Gefängnis Marassi zogen und den Rechtsmedien Italiens nicht die heiß ersehnten Bilder brennender Autos und Geschäfte lieferten.

Deutlich anders als 2001 war auch die Zusammensetzung der Teilnehmer. „Rete Lilliput“, das Netz von 700 vorwiegend katholischen Organisationen, das in den G-8-Protesten im Juli 2001 eine tragende Rolle gespielt hatte, lehnte diesmal eine Mitwirkung ab. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hatten die italienischen Medien in den letzten Wochen eine Krise der No-global-Bewegung beschworen.

Doch neben den traditionellen Kräften der Globalisierungskritiker – den „Ungehorsamen“ aus den Autonomen Zentren, Mitgliedern von Legambiente und anderen Umweltverbänden, den Kommunisten und Basisgewerkschaften, den Aktivisten der linken Freizeitorganisation ARCI – hatten auch der größte Gewerkschaftsbund, CGIL, und die Linksdemokraten mobilisiert.

Allerdings fanden diese beiden Kräfte sehr unterschiedliche Aufnahme. Sergio Cofferati, Vorsitzender der CGIL (und Mitglied der Linksdemokraten), wurde mit Applaus begrüßt, als er auf der Piazza Alimonda eintraf, jenem Platz, auf dem Carlo Giuliani erschossen worden war und auf dem sich am Samstag tausende versammelt hatten. Die CGIL hat sich mit ihren Protesten gegen die Regierung Berlusconi wie auch mit ihrer thematischen Öffnung zu den Globalisierungskritikern den Ruf eines ehrlichen Partners erworben.

Ganz anders fiel die Reaktion aus, als sich Luciano Violante, Fraktionsvorsitzender der Linksdemokraten im Abgeordnetenhaus, auf der Piazza Alimonda einfand. Schweigend ließ er Pfiffe und Schmährufe über sich ergehen. Violante kommentierte den Vorfall auf einer Pressekonferenz mit Selbstkritik: „Für politische Fehler zahlt man einen Preis.“ Seine Partei habe viel zu spät begonnen, sich mit den Inhalten der Globalisierungskritik auseinander zu setzen, „der ersten Bewegung seit 30 Jahren, die nicht bloß für sich selbst, sondern für andere aktiv wird“.

Als erstes Zeichen der Wiedergutmachung wollen die Linksdemokraten im Parlament mit Kommunisten und Grünen den Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses stellen, der Dynamik und Hintergründe der Polizeigewalt vor einem Jahr rückhaltlos aufklären soll.

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