: Dreidimensionale Stiche
Mehr als ein seelenloser Reproduzierender: Kunsthallen-Werkschau präsentiert über 90 Blätter des niederländischen Manieristen Hendrick Goltzius, der komplexe Anspielungsgeflechte entwarf
von HAJO SCHIFF
Manche längst verblassten Kunstwerke sind durch ihn überliefert, und was seine Technik angeht, gilt er als einer der besten Kupferstecher aller Zeiten: Hendrick Goltzius, der seit 1582 in Haarlem einen eigenen Bilderverlag betrieb. Doch trotz perfekten Könnens und ungewöhnlicher Perspektiven gab es bisher keine Einzelausstellung über den manieristischen Künstler. Mit über neunzig Stichen und Zeichnungen zeigt jetzt die Hamburger Kunsthalle eine Werkübersicht, die neues Gewicht auf Goltzius‘ Kunsttheorie legt.
Golzius lebte in einer Zeit voller Kriege und Glaubenszweifel. Zwischen der 1595 erfolgten Erhebung der Malerei zur „Freien Kunst“ und reformatorischen Bilderstürmen verdichtet das angesammelte Wissen die Bildsprache zu einer schwer entschlüsselbaren Komplexität. Anders als in der Renaissance bezieht sich die Kunst nicht mehr auf die beobachtete Umwelt, sondern reflektiert sich zunehmend selbst.
Goltzius reizt es, mit dem Medium des Kupferstichs in Konkurrenz zur Skulptur zu treten: In vier runden Bildfeldern werden gescheiterte „Himmelsstürmer“ scheinbar plastisch dargestellt, wobei mit Ikarus und Phaeton die griechische Mythologie illustriert, bei den Höllenstürzen von Ixion und Tantalus aber interpretatorisch weiterentwickelt wird. Auch hierbei tritt zutage, was lange nicht gesehen wurde: Goltzius war kein seelenlos Reproduzierender, sondern entwickelte mit etlichen Anspielungen das Bildrepertoire weiter.
So fertigte er eine Serie von sechs Stichen aus dem Marienleben und bediente sich in jedem Blatt des Stils eines andern Künstlers: Dürer und Lucas van Leyden, Pontormo und Barocci, Bassano und Tizian. Doch nichts davon ist Kopie, es sind alles Erfindungen, die beweisen, dass er die Qualität der Vorbilder zumindest halten kann.
Immer wieder testet der Haarlemer die maximalen Möglichkeiten des Kupferstichs. Auf seiner Reise nach Rom zeichnet Goltzius berühmte Skulpturen. Von der Skulpturengruppe Merkur entführt Psyche von Adriaen de Vries fertigt er Ansichten von drei verschiedenen Seiten an, sodass der Betrachter die Gruppe optisch umrunden kann: Ein fast filmisch aufgefasster Versuch, Dreidimensionalität im Bildmedium erfahrbar zu machen. Das ist nicht nur für den gelehrten Sammler von Nutzen, das ist auch Ausdruck von Goltzius Versuch, die rein handwerkliche Auffassung seines Metiers zu überwinden.
Aber anerkannter und privilegierter Meister seines Faches zu sein, reichte ihm nicht, und so wandte er sich um 1600 der prestigeträchtigeren Ölmalerei zu. Zwei allegorische Gemälde von 1611 kommen aber erst in vier Wochen nach Hamburg, zur Zeit sind sie noch durch Reproduktionen vertreten. Im Malstil noch manieristisch, sind sie in Farbigkeit und Bildaufbau von ruhiger Klassizität.
Es ist eine Ausstellung, die reizt, zu ergründen, wie komplex die bildsprachlichen Verdichtungen schon weit vor unserer angeblich so bildorientierten Zeit waren. Und da nicht jeder des verkürzten Humanisten-Lateins mächtig ist, wurden die originalen Beischriften der Bilder für diese Ausstellung neu übersetzt. Und wenn da unter dem zum Schlag ausholenden Kain steht ,,Was ein Schmerz! Wieviele Tyrannen gab es seitdem in der Welt, durch die die ganze Erde von unschuldigem Blut trieft“, so ist zumindest das seit 1590 keineswegs weniger aktuell geworden.
Die Masken der Schönheit – Hendrick Goltzius und das Kunstideal um 1600, Hamburger Kunsthalle; bis 29. September. Geöffnet Di–So 10–18 Unr, Do bis 21 Uhr. Katalog 20 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen