piwik no script img

Postnataler Egotrip

In Heike Geißlers Roman „Rosa“ bereist eine junge Mutter die Grauzone zwischen Leipzig, Berlin und New York

Es gibt diesen schönen, sehnsuchtsgetränkten Film des deutschen Filmemachers Michael Klier. Der heißt „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“ und beginnt in Warschau, wo ein junger Mann und eine junge Frau sich in einer Kneipe begegnen. Eine Ahnung von Glück wird spürbar, doch es bekommt keine Chance. Zu sehr wollen beide weg aus diesem Leben, sich selbst neu erfinden. Warschau, Berlin, New York sind ihre Stationen. Aber: Es ist nicht überall besser, sondern überall gleich. New York sieht bei Klier aus wie Warschau. Der Film ist in Schwarzweiß gedreht.

Die Protagonistin aus „Rosa“, dem ersten Roman der erst 24-jährigen Heike Geißler, durchläuft die gleichen Stationen, nur beginnt ihre Odyssee nicht in Warschau, sondern in Leipzig. Außerdem haben Kliers Helden das Glück, sich in allen grauen Städten immer wieder in die Arme zu laufen. Rosas Glück wartet zu Hause, doch der Weg zu dieser Einsicht ist lang. Rosa ist 22, also im genau richtigen Alter für die Suche nach dem neuen Ich in fremden Städten. Doch bei ihr liegt die Sache anders. Zu glatt ist ihr Leben immer gegangen. Die Chance zur großen Suche hat sie verpasst, als die Gelegenheit noch günstig war. „Alles hatte Rosa geschafft. Keine großen Krisen. Dabei hatten die meisten ihrer Freunde Krisen. Die sagten, zwanzig zu werden sei ein großer Einschnitt. ,Da beutelt es dich durch.‘ Rosa wurde nicht durchgebeutelt. Nicht mit zwanzig, nicht mit einundzwanzig. Also warum kein Baby.“ Und jetzt ist Rosa Mutter. Und doch immer noch ein Mädchen. Und deshalb ist ihre Suche nach dem Ort, wo es besser ist, auch kein normaler jugendlicher Selbstfindungstrip, sondern Folge und Ausdruck einer fetten postnatalen Depression. Das steigert das Krisenhafte einer solchen Reise ins Unerträgliche.

Mit schwabbeligem Mamabauch, blutendem Schritt und leckenden Brüsten besteigt Rosa wenige Tage nach der Geburt ihres Kindes heimlich den Zug nach Berlin. Diese kurze Fahrt enthält bereits die ganze nähere Zukunft. Sie wird nicht zum Weg in die Freiheit, sondern zur Tortur.

In Berlin strandet Rosa in den Armen des erstbesten Typen und redet sich ein, er spende ihr nur ein Obdach für die Nacht. Die Episode kulminiert in einer ebenso ekligen wie komischen Szene, worin der Fremde die Milch aus ihren Brüsten saugt („Saug, schluck, saug, saug, schluck. Der falsche Rhythmus“).

Rosa schüttelt das Ungeheuerliche ab, als wäre nix, reißt sich zusammen, besorgt sich Wohnung und Job, spielt großes, erwachsenes Mädchen. Doch der manischen Phase folgt die depressive auf dem Fuße. Rosa säuft, bricht zusammen und flieht nach New York. Dasselbe Muster. Findet Zimmer, findet Job, strandet in den Armen eines Marty (in Berlin hieß er Martin). Aber diesmal ist Rosa in ihrer Einsamkeit schon so elend, dass sie unbedingt daran glauben will, dass dies die große, rettende Liebe ist. Die ultimative Krise kündigt sich an.

Geißlers leichte, fast plaudernde Prosa wirkt manchmal schmerzhaft klaustrophobisch, denn aus der erlebten Rede, der unerbittlich durchgehaltenen Figurenperspektive ist kein Entkommen. Wir sind Gefangene von Rosas Mega-Egotrip. Und doch ist „Rosa“ nicht wirklich deprimierend, sondern sogar ein äußerst unterhaltsamer kleiner Roman. Denn Geißler hält absolut perfekt die Balance zwischen Figuren- und Lesersicht. Zwar fühlt man mit der Protagonistin mit, aber gleichzeitig weiß man beim Lesen ja so unendlich viel mehr als sie. Vor allem, dass Rosa sich fürchterlich was vormacht. Sie gibt uns einfach das gute Gefühl, eine zu kennen, die das eigene Leben noch weniger im Griff hat als wir selbst.

KATHARINA GRANZIN

Heike Geißler: „Rosa“. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002, 214 Seiten, 19,90 €

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen