Virtuelle Verschmelzung

3 Räume, 3 Kameras, 3 Tänzer: Auf dem Bildschirm finden in einer Tanzinstallation von labor G.Ras ideale Begegnungen statt. Im Realraum dagegen bleibt jeder für sich

Jedes Bild stirbt, kaum dass es erscheint. Fragil wie ein expressionistischer Stummfilm, in dem die hell ausgeleuchteten Körper Löcher in das Zelluloid zu brennen schienen, wirken die Bilder in der Tanzinstallation „Melting Point“. Choreografen, Tänzer, Architekten, Musiker und jede Menge Computeringenieure haben das Konzept zusammen entwickelt.

Durchsichtig wie Glas erscheinen Renate Graziadei, Mette Ingvartsen und David Hernandez auf der Leinwand im größten Raum. Manchmal treten sie wie Geister in die Konturen eines anderen ein und bewegen ihn von innen. Manchmal bleibt ein Bild stehen, während die Übertragung weiterläuft: Dann sieht man, wie David Hernandez an der Wand lehnt und sich selbst beim Tanzen zuschaut. Einmal sind die traurigen Augen von Davids Hund groß im Bild und Mette Ingvartsen beginnt darüber eine langsame Improvisation. Irgendwann ist ihr Solo schneller geworden, irgendwann ist Renate Graziadei dazugekommen,und plötzlich verschwinden ihre Ansichten aus der Bildübertragung, und übrig bleibt nur eine Spur aus Licht, ihren Bewegungen nachzischend. So muss es aussehen, wenn die Götter beschließen, dich in den Sternenhimmel zu schießen.

Es sind die Bilder vom Körper, die in dieser Tanzinstallation ergreifen und nicht die Körper selbst. Das Ephemere des Tanzes steigern sie ins Unendliche. Auf der Leinwand erreicht ihre Verschmelzung eine Intensität, für die man sich schwerlich eine reale Entsprechung denken könnte. Im Realraum aber ist jeder von den dreien allein. Tanzt in einem engen Raum mit schwarzen Wänden, in den das Publikum sich nur im Eingang quetschen kann. Die Konzentration der Tänzer gilt der Kamera, die sie auf sich gerichtet haben, und dem Monitor, der ihnen die Bewegungen der anderen zuspielt. Sie nehmen sich selbst über den Blick von außen wahr. Sie gehen in ihren Bewegungen ein auf das, was sie im Bild erleben.

Das, so sagt Arthur Stäldi von labor G.Ras, ist eine Begegnung im virtuellen Raum. Renate, Mette und David könnten über die Datenleitungen auch in Echtzeit miteinander tanzen, wenn sie in Rom, Paris und Berlin verstreut wären. Für Stäldi ist diese eine aufregende Möglichkeit der Erweiterung ihrer Kommunikation und zugleich ein Aufbrechen des Arbeitsprozesses. Denn keine Bewegungsfolge, keine Begegnung ist vorgegeben. Sie entstehen im Moment der Aufführung stets neu, jeden Tag sechs Stunden lang, ebenso wie die elektronische Musik, die Hernandez und Ralf Krause an ihren Pulten mischen.

Aber für diese gelungene Flucht aus dem dramaturgischen Korsett feststehender Aufführungen zahlen die drei ausgezeichneten Tänzer einen hohen Preis. So durchlässig sie auch sind, so präzise in ihrem Reaktionsvermögen, im Realraum findet zwischen ihnen und den Besuchern kaum noch eine Begegnung statt.

Erst auf dem Schirm kann man sie genießen, im Realraum fühlt man sich eher als Störfaktor in einem geschlossenen Kreislauf. Der virtuelle Raum vibriert in „Melting Point“ voller Spannung und Zartheit. Draußen aber schleicht man von Kabuff zu Kabuff und steht im Weg.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Melting Point“. In „The Box“, Paul-Lincke-Ufer 44a, bis 28. 7., tägl. 16.00 bis 22.00 Uhr