wir geben ihrer zukunft (k)ein zuhause: Ansichten vom XXI. Weltkongress der Architekten
Die Verfertigung der Gedanken
Auf einem Treffen wie dem Weltkongress der Architekten nimmt es nicht Wunder, dass es manchmal zugeht wie bei Kir Royal und bei der Münchener Schickeria. Es wird gebussit, wenn man alte Bekannte wiedertrifft. Und alle sind happy. Damit die Architekten und Architektinnen immer frischen Atem haben beim Bussi, hat das Unternehmen Vivico, die Immobilientochter der Deutschen Bahn AG, im halben ICC kleine Metalldöschen mit Pfefferminzbonbons ausgelegt. Jeder kann sich daraus bedienen, und sie haben noch den kleinen kongressbezogenen Nebeneffekt, dass sich nicht nur die Vivico mit ihren Architekturprojekten in Erinnerung ruft, sondern darüber hinaus sich längere Gespräche zwischen den Planern als üblich ergeben.
Der heimliche Star des Kongresses ist bis jetzt zweifellos Karl Ganser, denn Peter Eisenman wird erst am Donnerstag auftreten. Ganser hat im Vorfeld der Tagung nicht nur die Richtlinien für das Thema „Ressource Architektur“ mit kreiert. Der einstige Direktor der IBA Emscherpark zeigt auch wieder, dass er zu spektakulären Dingen fähig ist. Was er früher schon unter Beweis gestellt hat, etwa als er vor zwei Jahren mit einem Traktor aus seinem bayerischen Heimatdorf quer über die Alpen bis nach Venedig rumpelte, um zu zeigen, dass es anders geht und man trotzdem ankommt.
Ganser, der mit der revolutionären Forderung, dass nur noch auf bereits einmal bebauten Flächen neue Gebäude entstehen sollten, sich nicht nur Freunde unter der Architektenschaft erworben hat, gibt im ICC den Bad Boy und Everybody’s Darling gleichzeitig. Und das mit einer unglaublichen Flexibilität, die sogar dazu führt, dass er an zwei Stellen fast zur gleichen Zeit präsent ist. Nach der Rede des Bundeskanzlers etwa, die recht euphemistisch die Probleme der Architektur und das Thema Nachhaltigkeit aufgetischt hatte, war der Professor aus dem Bayerischen dran und hatte nur eins im Sinn, den Kanzler fertig zu machen. Dass er dafür seine Rede einfach ausfallen ließ und mit Verve eine halbe Stunde dem Chef des Kanzleramtes und den anwesenden Kollegen die Leviten las, war schon beeindruckend.
Am gleichen Tag trat er noch auf einer Veranstaltung und Ausstellung über Landschaftsarchitektur auf und hielt auch dort die Eröffnungsrede frei von der Leber weg. Im Unterschied zu anderen Freunden der freien Rede, die Inhalt mit Geschwätz überdecken können, wird es bei Ganser dagegen immer klarer, wenn er spricht.
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden hat Heinrich von Kleist einmal einen Aufsatz geschrieben. Und es gibt nur wenige, dazu zählt sicher der rhetorisch versierte Bundesaußenminister ebenso, die das Sätzebauen so gut beherrschen wie Ganser. Am Ende steht ein Gedankengebäude, vergleichbar einem Haus der klassischen Moderne, das klare Kanten hat, schöne Linien besitzt, man weiß, wo der Eingang ist, und eine Perspektive in den Garten besitzt. Und Dank der Vivico konnten alle bis zum Ende zuhören. ROLF LAUTENSCHLÄGER
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