piwik no script img

In Mythos und Gegenwart

Ein Subkontinent zerfällt auf der Leinwand und setzt sich in der Erinnerung wieder zusammen: Dem New Indian Cinema widmet sich „Indian Summer“, die Retrospektive des Filmfestivals von Locarno

Klassische indische Musik bestimmt den langsamen Rhythmus vieler Filme

von ANKE LEWEKE

„Was unser Kino vor allem braucht, ist ein Stil, ein Idiom, eine Art Ikonografie des Films, die einzigartig und unverwechselbar indisch wäre.“ (Satyajiit Ray)

Was ist indisch? Dem aufgeschlossenen westlichen Kinogänger schießen zunächst blumengeschmückte Frauen mit farbenfrohen Saris in den Sinn, barfüßige Helden in Pluderhosen, die mit stolzem Blick durch exotische Kulissen wandeln. Typisch indisch dürfte auch der exzessiv ausgelebte Hang zum Melodram sein: Hand in Hand werden Held und Heldin durch verwegene Gesangs- und Tanzeinlagen geschickt, die in ihrer Emotionalität ganz nebenbei Raum und Zeit aus den Angeln heben. Gerade schwebte das Liebespaar noch über den Berggipfeln des Himalaja, jetzt tanzt es auch schon über einen Pariser Boulevard, um den keuschen Flirt wenig später in einem feudal ausgestatteten Versteck weiterzuführen.

Das indische Mainstreamkino mit seinen eigenwilligen Songs und den seltsam gespreizten Tanzfüßchen scheint ein diffuses Interesse an Exotismus und kollektivem Erleben zu befriedigen. Fernab jeder ideologischen Kritik und Kracauer’scher Gesellschaftsexegese darf das Kino wieder Märchen und Spektakel sein, das man unter lautem Gejohle und Geseufze gemeinsam konsumiert. Ganz wie in Indien, wo der Kinobesuch eher einem ausgedehnten Ausflug mit Kind und Kegel gleicht.

Von der schillerndsten Seite präsentiert der populäre indische Film die Heimat, seine grellen Bilder und übergeschnappten Geschichten sind anderen Regisseuren jedoch schon lange ein Dorn im Auge. Mitte der Sechzigerjahre wurde die vehemente Ablehnung von Ästhetik und Inhalt des Kommerzkinos gar zum konstituierenden Moment der Bewegung des New Indian Cinema. Seine Vertreter kritisierten die Realitätsferne, das Ausschlachten nationaler Mythen, die plakative Zurschaustellung traditioneller Gesänge und Tänze. Stattdessen forderten sie ein Kino der Wahrhaftigkeit und sozialen Relevanz – ganz im Sinne des Kinozeitgeists, der sich zwischen Nouvelle Vague, Cinema Novo, Oberhausen und dem Aufblühen osteuropäischer Kinematografien bewegte.

Wie ein solches Kino allerdings ausgerechnet in Indien existieren und sich amortisieren soll, ist bis heute eine heikle Frage. Zunächst waren es sicher die Erfolge von Satyajiit Rays und Mrinal Sens Werken auf internationalen Festivals und das Aufkeimen von Filmclubbewegungen in den Bundesstaaten, die die Regierung zur Kreditförderung veranlassten und einzelne Fernsehanstalten auf das so genannte „Parallel Cinema“ aufmerksam machten. Auch internationale Koproduzenten in Sachen Weltkino zeigten bald Interesse, noch heute bieten sie den geistigen Enkeln der alten Autorengeneration Finanzierungszuschüsse – nur so konnten beispielsweise Mira Nairs preisgekrönte Filme „Salaam Bombay“ und „Monsoon Wedding“ entstehen. Inzwischen allerdings stellt der Boom des opulent auftrumpfenden Bollywoodkinos in Europa und in den USA den indischen Autorenfilm in den Schatten. Auf internationalen Festivals wird der Song- und Dancefilm als ethnografischer Sonderling gefeiert. Mit der Oscar-Nominierung des Kricket- und Musicaldramas „Lagaan“ hat er sich weiteres internationales Renommee verschafft.

Unter dem Titel „Indian Summer“ versucht die Retrospektive des nächste Woche beginnenden Filmfests von Locarno einen Einblick in die ästhetischen und inhaltlichen Spannungsfelder des indischen Films zu geben. In der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Ansätze wird deutlich, dass Bollywood und Autorenkino nur die oberflächlichsten Pole der indischen Filmkultur sind. So entsteht in der Retrospektive das Bild eines Landes, das auf der Leinwand zerfällt, um sich erst in der Erinnerung wieder zusammenzusetzen, zu einem Subkontinent, der gleichzeitig in der Gegenwart und im Mythos existiert, in der urbanen Internetmoderne und in einer fast mittelalterlichen Agrargesellschaft, in einer aufgeklärten Bürgerkultur und im religiösen Fanatismus.

Egal in welchem Genre sich das indische Kino bewegt, Musik und Gesang haben seine Erzählformen entscheidend geprägt. Überall in Indien dudeln Kofferradios den ganzen Tag vor sich hin, und für jede Lebenssituation hat man eine ganze Palette passender Lieder parat. Nicht nur im Alltag, auch im Ritus spielt Musik eine wichtige Rolle. Seine markant musikalische Struktur entwickelte der indische Film durch die Einbeziehung rhetorischer und melodischer Praktiken des traditionellen Sanskrit-Dramas und des städtischen Parsi-Theaters. Mit den technischen Möglichkeiten kam es dann gewissermaßen zur klanglichen Explosion.

Während in den Bollywood’schen Musical-Melodramen die Gesangseinlage vor allem emotionaler Gipfelstürmerei dient, versucht der Autorenfilm von Anfang an, sie in seine Geschichten einzubinden. Durchaus in melodramatischer Manier erzählt Muzzafar Ali in „Umrao Jaan“ (1981) die Lebens- und Leidensgeschichte einer berühmten Kurtisane aus dem 19. Jahrhundert. Als Kind wird sie entführt und an ein Bordell verkauft, dort erfährt sie die klassische Ausbildung zur Frau im Dienst der Männer. In aller Ausführlichkeit zeigt Alis Film, wie das kleine Mädchen in traditionellen Streichinstrumenten und Tanz unterrichtet wird. Plötzlich erscheinen die schillernden Kostüme in einem ganz anderen Licht, weil wir die harte Arbeit und ein damit verbundenes Schicksal erfahren.

Um die Besonderheiten der klassischen indischen Ragamusik mit den Bildern in Einklang zu bringen, begann der wohl bekannteste indische Autorenfilmer, Satyajiit Ray, für seine späteren Filme die Musik selbst zu komponieren. Das geistige Element dieser Musikrichtung sollte den Filmen ein abstrahierendes Moment verleihen. So ist sein umstrittener Film „Shatrany Ke Khilarari“ („Die Schachspieler“) über die indische Kolonialgeschichte nicht nur Historienfilm, sondern auch bitterer Kommentar zum allgemeinen indischen Opportunismus. Ungerührt von den aufkeimenden Kriegswirren zwischen dem narzisstischen König Wajid und dem britischen Generalgouverneur Dalhousie, spielen die beiden Freunde Mir und Mirza den lieben langen Tag Schach. Wenn die Briten am Ende die Macht übernehmen, setzen sie ihr Schachduell fort, aber nun nach britischen Regeln: Die Figur, die sie bisher als Minister gekannt haben, heißt jetzt Königin. Nur spärlich setzt Ray die den Moment zerdehnende Musik ein, doch gibt sie den passenden Hintergrund zu den langen, in einer Einstellung gedrehten Rede- und Schachduellen.

Die Verwendung klassischer indischer Musik bestimmt den langsamen Rhythmus vieler Filme, die das dörfliche Leben zum Gegenstand haben. Noch scheint die Moderne an der indischen Landwirtschaft spurlos vorbeigezogen zu sein. Geerntet und gepflügt wird wie vor hundert Jahren, Macht und Willkür der Großgrundbesitzer bestimmen die Besitzverhältnisse. In seinem 1987 entstandenen Film „Halodhia Choraya Baodhan Khai“ („Die gelben Vögel“) erzählt Jahnu Barua vom erbitterten Kampf eines armen Bauern um sein kleines Stückchen Land. Immer wieder geht es dem New Indian Cinema um Geldgier, Korruption und Ausbeutung in den ländlichen Regionen.

Es ist die offene Haltung der Autoren zu Themen und Menschen, die die Verbindung zwischen ausgefeilter filmischer Erzählung und politischer Durchschlagskraft ermöglicht. Die Regisseure fühlen sich einem starken Lokalkolorit mit erkennbarem Umfeld verpflichtet, plädieren für ein Konzept der Verwurzelung (rootedness), durchaus auch im ästhetischen Sinn. So bezieht man Laiendarsteller ein, dreht an Originalschauplätzen, dokumentiert den bäuerlichen Alltag mit seinen unzähligen Handgriffen vom Wasserholen bis zum Kornmahlen. Nicht abgehobene Visionen oder eine künstliche Dramaturgie geben den Ton an, vielmehr hält das ländliche Leben Indiens mit all seinen Dissonanzen Einzug ins Kino.

Filmische Exkursionen in die explodierenden Megametropolen sind hingegen weiterhin eine Seltenheit im indischen Autorenkino. Die Regisseure des New Indian Cinema hoffen auf die nachfolgende Generation, die zurzeit in den Großstädten aufwächst und sich in den neuen Lebenszusammenhängen zwischen traditionellen Familienbilder und urbaner Beschleunigung orientieren kann. Ohnehin scheinen die kleinstädtischen und dörflichen Chroniken noch nicht zu Ende erzählt. Tabuisierte Themen wie Mädchenheirat, Zwangsprostitution, Witwenverbrennung oder orthodoxer Hinduismus drängen in den letzten Jahren auf die Leinwand. Und längst hat das Unbehagen an der Moderne auch die Provinz infiziert. Jeden Abend wartet in Shajji Karuns Film „Piravi“ (1988) ein alter Vater an einer Bushaltestelle auf seinen Sohn, der in der Großstadt studiert. Vergeblich. Politische Unruhen oder lockerer Lebenswandel im Moloch Stadt entlassen den jungen Mann nicht mehr aus ihren Klauen. In Erinnerung bleibt das verzweifelte Gesicht des Greises, der sein Wissen, Denken und Leben nicht mehr an einen Erben weitergeben kann.

Vielleicht muss die von Satyajiit Ray geforderte einzigartige und unverwechselbare Ikonografie des indischen Kinos schon an der Fülle von Themen scheitern. Dennoch wäre der Altmeister und Wegbereiter des neuen indischen Kinos mit seinen filmischen Kindern und Enkeln zufrieden. Denn die persönliche Verbundenheit der Autoren zu ihren Sujets, die Virulenz der Geschichten und die Nähe zu den Figuren entheben die Filme des New Indian Cinema und seiner Nachfolger von vornherein jeglichen Exotismus und ethnografischer Zurschaustellung. Die Frage nach dem, was spezifisch indisch ist, hätte sich damit auf ganz selbstverständliche Weise erübrigt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen