piwik no script img

Die Gehörnten

Die, die sich für die besseren Menschen halten, tragen am Ende die Hörner. Nur wer bei sich bleibt, bleibt Mensch: Theaterprojekt mit Ionescos „Nashörnern“ in der forensischen Psychiatrie

von SANDRA WILSDORF

Noch ist die Bühne leer, und Gloria Gaynors „I am what I am“ erfüllt die Turnhalle, die heute Theater ist. Zu sein, wie sie sind, ist für die meisten der Schauspieler alles andere als eine Selbstverständlichkeit, sondern der Kern einer oft Jahre dauernden Auseinandersetzung mit sich selbst. Denn sie sind Patienten der forensischen Psychiatrie.

Auf der Bühne lamentieren Hans und Behringer. Sie sind Freunde per Sie. Hans, der Krawattenträger, macht Behringer Vorwürfe: für sein Zuspätkommen, seine Alkoholfahne, seine ungewaschenen Haare und die Flecken auf seiner Jacke. Behringer gibt zu: „Ich konnte mich nie an mich gewöhnen“ und will gar keinen Streit. Den aber drängt Hans ihm auf, versteht mit Absicht alles falsch. „Ich bin der bessere Mensch“, glaubt Hans. Erst als ein Nashorn an den beiden vorbeiläuft, geraten sie aus dem Takt, und Behringer wehrt sich, beschimpft Hans als „Angeber und Pedant“, bereut das aber gleich wieder. „Ich hätte mich nicht mit ihm streiten sollen.“

In der zweiten Szene von Eugène Ionescos „Nashörnern“ verwandeln sich immer mehr Menschen in die Dickhäuter. Menschen wie Abteilungsleiter Wisser halten das zwar alles für Propaganda, aber als sich auch Kollege Ochs in ein Nashorn verwandelt und seine Frau auf dem Rücken ihres Gatten nach Hause reitet, kommt auch Wisser nicht umhin, den Wahnsinn zu glauben. Als Behringer sich schließlich mit seinem Freund Hans vertragen will und ihn deshalb zu Hause besucht, findet er ihn mit grünlicher Haut vor. Die Farbe breitet sich aus, der Freund schnaubt. Am Ende ist klar: Der, der sich für den Besseren hielt, der Angepasste, wird zum Nashorn. Und der, der am Anfang noch der Außenseiter war, ist bei sich selbst geblieben und deshalb Mensch: „Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch“, sagt er.

Am Ende der Generalprobe strahlen die Schauspieler über den Applaus der Ärzte, Pfleger, Journalisten und Mitpatienten. „Wir haben viel gelernt und viel gelacht“, sagt Patient Dietrich über das Theaterprojekt unter der professionellen Anleitung des Hamburger Schauspielers und Regisseurs Stephan Hillebrand. Ein halbes Jahr haben die Proben gedauert, zweimal die Woche je zweieinhalb Stunden. Zwischendurch haben die Schauspieler auf ihren Stationen geübt, „ein Mitpatient hat mich jeden Abend abgehört“, sagt Dietrich. Er stand schon einmal auf der Bühne, als Ruprecht in Heinrich von Kleists „Zerbrochenem Krug“. Aber das war auf der Rudolf-Steiner-Schule und ist über 50 Jahre her. Er hat sich jetzt „Die Nashörner“ im Original bestellt.

Für Torsten, der gerade zum Nashorn wurde, ist das Theaterspielen, eine völlig neue Erfahrung, „für mich ganz persönlich, aber auch als Gruppenerlebnis“, sagt er. Stationsarzt Oliver Eschenbach, der die Entwicklungen der Patienten auf der Bühne in das therapeutische Gesamtkonzept eingebracht hat, erinnert sich daran, dass jener Torsten nach der ersten Probe nie wieder auf die Bühne wollte, „die totale Abwehr“. Seine Patienten begeistern ihn, „sie haben sich weit über das hinaus entwickelt, was ich mir vorgestellt hatte“. Auch die, die lieber Bühnenbild und Kostüme gemacht haben, als auf der Bühne zu stehen.

Trotzdem ist unklar, ob das Projekt weitergeht. Heute und morgen spielen die „Nashörner“ für Angehörige, Patienten und Gäste, dann ist erst Mal Schluss. „Es war ein Experiment, das den Mitarbeitern großes Engagement abverlangt hat“, sagt Guntram Knecht, leitender Arzt der Forensik. Denn wegen der strengen Sicherheitsvorschriften mussten zu jeder Probe Mitarbeiter mit, das Personal aber ist knapp. Deshalb kann der Maßregelvollzug das Projekt nicht dauerhaft aus dem laufenden Etat bestreiten. Die Hoffnung richtet sich auf Zuschüsse von der Gesundheitsbehörde.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen