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Schlossblicke

Die 1880er-Generation: Mit fünf Prager Schriftstellern vom Hradschin durch das „Goldmachergässchen“ hinunter zu den Synagogen der Josefstadt

„Noch ein Krügl, Frau Kopecka, es ist so spannend, dass ich Durst krieg“

von GERD SCHUMANN

Prag erreicht, Bahnhof Holesovice, ein monumentaler Glas-Beton-Zweckbau, Melancholie in Grau. Der Herr Mikolas spricht uns an, einer der Hotelagenten am Gleis. Eigentlich sei er Ingenieur, Maschinenbauer, erzählt er auf dem Weg über die Moldau in Richtung Altstadt, doch das war „früher“. Heute boomt der Tourismus und macht Wissenschaftler zu Laufburschen. Allerdings, ohne seinen Zweitjob als Mixer in einem Stripteaseclub würde es kaum zum Überleben reichen. Arbeit gebe es zwar zur Genüge, nur eben schlecht bezahlt. Also seien vierzehnstündige „Doppelpacks“ keine Ausnahme. Der fünfzigjährige Herr Mikolas vermittelt uns ein Zimmer zum günstigen Sonderpreis im Hotel – umgebautes Wohnhaus aus der Gründerzeit, idyllischer Erkerraum direkt unterm Dach mit Panoramablick auf tausend Schieferdächer und hundert Backsteintürme, mindestens.

Über allem in dieser Stadt thront Kafkas „Schloss“, der Hradschin (hrad = Burg), Sitz des Präsidenten. Fahne nicht gehisst, Václav Havel absent, logo, is ja auch Rock-’n’-Roller, der Mann, ewig on the road, sich fühlend wie Kerouac wohl. Oder etwa wieder zu viel geraucht und im Hospital, Teil drei der Lungen-Arie? Oder vielleicht doch nur in seiner Villa vor der Stadt? Sei’s drum.

Wir behalten das Schloss im Blick und landen in einem Café. Palatschinken und Wiener Schlagoberst-Kaffee lässig serviert von teilnahmslosem, cool bis zur Apathie wirkendem und doch wider Erwarten immer ansprechbarem Kellner, Typ: polierte Halbschuhe aus schwarzem Leder; abgewetzte Stoffhose, Brillantine im Haar. Die Drehtür knarrt natürlich seit Kaiser Franz Ferdinands Regentschaft. Genau so stellen sich Amis Europa vor, das gute alte, weswegen sie scharenweise einfallen in Havels Reich, ihr Ansinnen verwirklichend, das „Paris des Ostens“ mit Bubblegum und Big Mac und High-Tech zu kolonisieren. Geschätzt wird, dass um 20.000 US-Amerikaner ihre Hauptquartiere in der Goldenen Stadt aufgeschlagen haben – „und wenn die ‚Gold‘ sagen, meinen sie Gold“, sang Franz Josef Degenhardt 1968. Jetzt sind sie tatsächlich hier, zu Prag.

Längst ist auch der alte Adel mit Fürst „Kari“ zu Schwarzenberg an der Spitze wieder wer und hat seine umfänglichen Besitztümer aus habsburgischen Zeiten mit Kusshand zurückgenommen. Und Václav Havel ist nicht nur „Präsident der Bürger“, sondern auch ein Bürgerlicher, schon immer, alteingesessene tschechische Bourgeoisie, die Havels. Sein Großvater Václav senior, Architekt von einigem Ansehen und Können, schuf die opulenten Jugendstilpassagen, in die wir nun eintauchen. Kurz hinter deren unscheinbarem Eingangsschlund lauert bereits der Höhepunkt: Das siebengeschossige „Lucerna“ inklusive des gleichnamigen Plüschkinos an der Stepanska 61.

Die hallige Bar in der Beletage wölbt sich wie eine venezianische Galeriefensterbrücke über den pompösen Gang, und von der Decke hechten Gaul mit Reiter kopfüber auf die Passanten hinunter – nur knapp von mächtigem Seil gehalten, Fenstersturz zu Prag Nummer vier, eine Skulptur, schon lange Dernier Cri, monströser Scherz, derweil ein Marek-und-Vacek-Double – Markenzeichen: Wuschelköpfe, messerscharf ausrasierte Kinnbärte – vierhändig auf zwei schwarz schimmernden Flügeln Beethovens „Mondscheinserenade“ klimpert. Fehlt nur noch die „goldene Stimme“, die „Einmal um die ganze Welt“ schmettert, doch Karel Gott ist nicht da. The Lord ist fort. Stattdessen beobachten Taschendiebe Touristen, immer auf der Suche nach Dollars und Euros für eine Reise um die Welt oder weiter.

Am Wenzelsplatz demonstrieren einige hundert revolutionäre Hundehalter gegen irgendwas, eine kothaltige Angelegenheit unter bellstarker Unterstützung glücklicherweise meist angeleinter Vierbeiner. Schweyk, der Hundehändler, hätte sich ins Fäustchen gelacht und eher gelangweilt kommentiert: „Noch ein Krügl, Frau Kopecka, es ist so spannend, dass ich Durst krieg.“ Bertolt Brechts Stück „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ – angelehnt an Jaroslav Haseks Spötterfigur – entstand 1943, als die Stadt vom Terror regiert wurde. Die Bücher der großen Prager Autoren einer Generation, Leo Perutz (geboren 1882), Franz Werfel (1890), Max Brod (1884), Egon Erwin Kisch (1885), waren längst verbrannt, ihre Schöpfer knapp entkommen, Perutz und Brod nach Palästina, Werfel über die Pyrenäen und Übersee in die USA, Kisch, rastlos unterwegs, sprang an Australiens Ufern von Bord, weil ihn das Land nicht wollte.

Der Größte im Bunde, Franz Kafka (geboren 1883), war schon tot, gestorben mit 40. Zwischen 1916 und 1918 hatte er auf dem Hradschin im Goldenen Gässchen Nr. 22 gewohnt. Die selbst im Sommer noch feuchte Kühle hinter dicken Burgmauern vermittelt uns nun einen dauerhaften Eindruck von der Wahrscheinlichkeit, hier lungenkrank zu werden oder rheumatisch. Kafka hatte Kehlkopftuberkulose.

Nein, das „Schloss“ sollte er, der „Landvermesser K.“, niemals erreichen, außer in der Version von Max Brod, Kafkas Entdecker und Nachlassverwalter, der für die Bühne das fragmentarische Original ganz einfach um ein Hoffnung spendendes, religiös angehauchtes Happy-End „ergänzte“. Dabei hatte Kafka ausdrücklich verfügt, alle seine nicht veröffentlichten Schriften zu vernichten – darunter „Schloss“ und „Prozess“. Kümmerte Brod nicht, und ohne seine Ignoranz gäbe es nichts „Kafkaeskes“, zumindest nicht den Begriff. In der Wirklichkeit natürlich trotzdem, fremder noch als fremd, grausamer als grausam, wirklich.

Eng an eng, eine Ansammlung von klitzekleinen Häuschen mit Keller und Wendeltreppe, jenes „Goldmachergässchen“, in dem natürlich – wie überall – kein Gold gebraut wurde, das aber trotzdem so genannt wird. Der fanatisch Kunst sammelnde und folglich dauernd blanke Rudolf Zwo wurde richtig böse auf seine erfolglosen Hofalchimisten und ließ so manchen hängen, was allerdings auch kein Edelmetall in die leere Kasse brachte.

In seinem virtuos durchkomponierten Sittengemälde „Nachts unter der steinernen Brücke“ schrieb Leo Perutz darüber, insbesondere über den jüdischen Finanzier des Kaisers, Mordechai Meisl, dessen von Rudolf Zwo begehrte Frau und darüber, wie todtraurig die poetische Geschichte unten im Judenghetto, der späteren „Josefstadt“, endete, ein düsteres Mosaiksteinchen gleich zu Beginn des Romans.

Fahne nicht gehisst, Václav Havel absent, logo, is ja auch Rock-’n’-Roller, der Mann

Václav Novak begegnet uns an der Meisl-Synagoge, die heute das Jüdische Museum beherbergt. Der Mittzwanziger gehört zu einer Fremdenführungsfamilie in der dritten Generation. Sein Großvater wurde von den Deutschen nach Theresienstadt und in zwei Lager verschleppt. Sein Enkel lässt sich nichts anmerken davon, dass er nun gerade Deutsche führen muss, um sein Geld zu verdienen. Der gläubige Jude zeigt uns, was übrig blieb von seiner Kultur: die im Stil der Alhambra errichtete Spanische Synagoge, erinnernd an die von der Inquisition Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aus Spanien vertriebenen Juden; dann die tausende in Etagen und kreuz und quer gestapelten Grabsteine und eingestürzten Gruften des alten Friedhofs; schließlich jene an die Wände der Pinkas-Synagoge in Gold und Rot und Gelb geschriebenen Buchstabenkolonnen, Namen der von den Nazis ermordeten 77.297 tschechischen und slowakischen Juden.

Der freundliche Václav führt uns weiter noch zum spätbarocken Jüdischen Rathaus von 1763, dessen Turm die einzige hebräische Uhr Prags ziert. Ihre Zeiger drehen sich linksherum und berühren stündlich einen anderen der ersten zwölf Buchstaben des hebräischen Alphabets – als „Zeichen einer längst untergegangenen Zeit“ interpretierte sie Kisch unter dem Pseudonym „Mathias Brunnheuser“ am 8. Juni 1933 in der schon illegalen AIZ (Arbeiter-Illustrierten-Zeitung).

Der „rasende Reporter“ irrte, der Untergang stand erst noch bevor. Nur 1.500 Prager Jüdinnen und Juden erlebten ihre Befreiung aus Theresienstadt oder aus einem der Vernichtungslager durch die Rote Armee. Das Rote Kreuz dagegen hatte gründlich versagt: Noch 1944 fehlurteilte eine Delegation desselben über Theresienstadt: „Wir hätten es schlimmer erwartet …“

Später im grauen Holesovice-Bahnhof. Die geräumige Plastikstuhl-Bar mit angeschlossener Spielhölle verströmt eine sterile Schmuddeligkeit ganz eigener Art mit ihren oft geputzten und trotzdem leicht angegrauten Fensterscheiben. Doch wenn die Sonne scheint, spielen die Farben des Regenbogens auf ihnen.

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