Die letzte Chance für den Zug nach Europa

Heute tritt das türkische Parlament zu einer Sondersitzung zusammen. Neben Neuwahlen geht es um ein Paket von Gesetzen, das die Türkei für einen EU-Beitritt fit machen soll. Doch die Chancen für eine Verabschiedung stehen schlecht

ISTANBUL taz ■ Wer in der EU fürchtet, man werde sich demnächst ernsthaft mit dem Kandidaten Türkei beschäftigen müssen, kann aufatmen. Alle Zeichen in Ankara sprechen dafür, dass die türkische Politik wieder einmal dabei ist, ihre Chancen für einen EU-Beitritt zu verspielen. Heute wird das türkische Parlament zum zweiten Mal zu einer Sondersitzung zusammengerufen, um über einen Termin für vorgezogene Neuwahlen abzustimmen. Diese Sitzung wird zugleich die letzte Chance sein, noch vor den für den 3. November geplanten Neuwahlen ein von der Koalitionspartei Anap geschnürtes Paket von Gesetzesänderungen zu verabschieden, durch die die Türkei die Voraussetzungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt.

Spätestens seit Ende letzten Jahres ist den Spitzen der Parteien, den Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften klar, dass 2002 das entscheidende Jahr für die weitere EU-Perspektive der Türkei wird. Im Herbst 2001 hatte Brüssel der türkischen Regierung signalisiert, dass es bei den Zypern-Verhandlungen ernst wird und auf dem letzten Gipfel 2002 über die Beitrittskandidaten entschieden würde. Auf Druck Ankaras bot Rauf Denktasch, Chef der türkischen Zyprioten, seinem griechischen Gegenüber Glafkos Klerides erstmals seit Jahren direkte Gespräche an, während in Ankara weit reichende Verfassungsänderungen verabschiedet wurden.

Das war es auch. Denktasch und Klerides reden bis heute ohne Ergebnis, und in Ankara blieben die entscheidenden Reformgesetze im Gestrüpp einer zerstrittenen Koalition hängen. Abschaffung der Todesstrafe, muttersprachlicher Unterricht in Kurdisch, kurdische Medien, Pressefreiheit insgesamt und wirksame Gesetze gegen Folterer – alles kam immer mal wieder auf den Tisch, ohne jedoch jemals zu einer abstimmungsfähigen Vorlage im Parlament zu werden. Das lag daran, dass die ultrarechte MHP immer klarer auf Anti-EU-Kurs ging, aber auch daran, dass Ministerpräsident Bülent Ecevit selbst nichts dafür tat, dass die Reformen vorankamen. Vor allem in der Zypernfrage und einer Anerkennung kultureller Rechte für die Kurden in der Türkei, war Ecevit die harte Haltung der MHP gerade recht.

Aber selbst Mesut Yilmaz, Chef der dritten Koalitionspartei Anap und qua Amt für die Beziehungen zu Brüssel zuständig, hat in den letzten zwei Jahren nicht viel für den Reformprozess getan. Er war hauptsächlich damit beschäftigt, in vielen Korruptionsskandalen seine Haut zu retten. Aus Angst vor Neuwahlen, den drohenden Untergang seiner Anap vor Augen, hat Yilmaz es vermieden, die EU-Reformen ernsthaft zur Koalitionsfrage zu machen, obwohl lange klar ist, dass die MHP die Reformen nie mittragen würde. Jetzt, wo Neuwahlen unausweichlich geworden sind, will Yilmaz sich als Vorkämpfer für Europa beim Wähler in Erinnerung bringen.

Doch als Retter der türkischen EU-Hoffnungen kommt Yilmaz zu spät. Diese Rolle hat ihm Ismail Cem mit der Gründung seiner Yeni Türkiye Partisi abgenommen, und auch seine alte Rivalin Tansu Çiller will Yilmaz nicht die Chance geben, sich mit der EU-Frage im Wahlkampf zu profilieren. Da auch die beiden islamischen Oppositionsparteien einem EU-Reformpaket nur zustimmen wollen, wenn gleichzeitig das Wahl- und Parteiengesetz in ihrem Sinne geändert wird, ist das Reformpaket wohl zum Scheitern verurteilt.

Obwohl nach letzten Umfragen rund 70 Prozent der Bevölkerung für einen EU-Beitritt der Türkei sind, verhindern parteitaktische Erwägungen, die Voraussetzungen dafür rechtzeitig zu schaffen. Auf dem EU-Gipfel im Dezember braucht Edmund Stoiber, so er gewonnen hat, sich dann gar nicht mehr ins Zeug zu legen. JÜRGEN GOTTSCHLICH