: Nicht alle trauern Özdemir nach
Wer Cem Özdemir als innenpolitischer Sprecher der Grünen ersetzt, ist noch völlig offen. Bundesausländerbeirat bedauert „großen Verlust“. Türkische Gemeinde widerspricht: Özdemirs Politik sei für die Migranten „eher schädlich“ gewesen
von LUKAS WALLRAFF
Als Rudolf Scharping entlassen wurde, hatte die SPD sofort einen Nachfolger parat: Peter Struck wurde neuer Verteidigungsminister. Bei den Grünen dagegen weiß man auch drei Tage nach dem Rückzug von Cem Özdemir noch nicht, wer die Lücke schließen soll, die er hinterlässt. Mitten im Wahlkampf steht die kleine Regierungspartei ohne innenpolitischen Sprecher da. Doch für Hektik sehen seine Parteifreunde keinen Anlass. „Das werden wir in Ruhe beraten“, sagte Özdemirs Fraktionskollege Volker Beck gestern auf die Frage nach möglichen Nachfolgern.
Angesichts der dünnen Personaldecke in der grünen Fraktion scheint es nahe liegend, dass Beck für den Rest der Legislaturperiode Özdemirs Themen übernimmt. Der rechtspolitische Sprecher hatte sich schon in der Vergangenheit häufig zu innenpolitischen Fragen geäußert, den Fraktionsarbeitskreis Innenpolitik geleitet und das Zuwanderungsgesetz mit ausgehandelt.
Über große Kompetenz in der Migrationspolitik verfügt ansonsten nur Marieluise Beck, die sich aber bisher als Ausländerbeauftragte der Bundesregierung mit starken Sprüchen zurückhielt. Nach Özdemirs Rückzug ist zu erwarten, dass sie im Wahlkampf wieder deutlicher als Parteipolitikerin auftreten wird.
Nicht so leicht zu ersetzen ist Özdemir freilich als „anatolischer Schwabe“, als Symbolfigur für gelungene Integration und als einziger grüner Vertreter der MigrantInnen im Parlament. Deshalb bedauert auch Memet Kilic, Vorsitzender des Bundesausländerbeirats, Özdemirs Abgang. „Das ist ein großer Verlust für die Migranten in Deutschland“, sagte Kilic der taz. Als erstes Migrantenkind im Bundestag habe Özdemir viel dazu beigetragen, die Anliegen der Einwanderer einzubringen. Auch sein Engagement für das neue Staatsbürgerschaftsrecht und das Zuwanderungsgesetz sei „ein großes Verdienst“.
Der frühere Grüne und heutige SPD-Europaabgeordnete Ozan Ceyhun sagte der taz, er sei „traurig“ über den Verlust eines „wichtigen Mitstreiters“. Die Kritik an Özdemirs Arbeit, „die von den Grünen komischerweise erst jetzt geäußert wird“, kann Ceyhun nicht nachvollziehen: „Ich habe Özdemir als fleißigen Politiker kennen gelernt.“
Lobende Worte fand auch der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Hakki Keskin – aber nur zu Özdemirs Rücktritt. „Das war konsequent und ist in jeder Hinsicht zu begrüßen“, so Keskin. Einen Verlust kann er nicht erkennen. Im Gegenteil: Mit der politischen Arbeit Özdemirs habe er „sehr große Probleme“. Keskin wirft Özdemir „mangelnde Dialogbereitschaft“ gegenüber der Türkischen Gemeinde vor und kreidet ihm an, dass er das neue Staatsbürgerrecht als Erfolg verkauft habe, obwohl Rot-Grün auf den Doppelpass verzichtete. Auch beim Zuwanderungsgesetz habe Özdemir „erheblich dazu beigetragen, dass unsere wichtigsten Wünsche nicht berücksichtigt wurden“. Gerade weil er als Migrantenvertreter hohe Glaubwürdigkeit besessen habe, sei sein Auftreten „eher schädlich“ gewesen. Keskins Fazit: Ohne die Unterstützung Özdemirs hätte Innenminister Otto Schily (SPD) viele Verschärfungen, wie etwa beim Familiennachzug, nicht so leicht durchsetzen können.
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