Die Geschichte der Industrialisierung in 6 Minuten

Vor allem musikalisch strukturiert: „Vorher/Nachher“, die Folge 43 kurzer Szenen von Roland Schimmelpfennig, ist jetzt als Hörbuch erschienen

Raum und Zeit sind relativ. Das weiß man zwar, doch selten wird davon so spannender Gebrauch gemacht wie in dem Stück „Vorher/Nachher“, einer Folge von 43 kurzen Szenen von Roland Schimmelpfennig. Sie wurden im TAT in Frankfurt vor fast einem Jahr in einer szenischen Lesung vorgestellt und vom Hessischen Rundfunk übertragen. Jetzt ist der Mitschnitt als Hörbuch in der kleinen Reihe „theater modern“ erschienen. Anders als Neil LaButes Erfolgsstück „Bash“ in der gleichen Reihe scheinen jedoch Schimmelpfennigs Texte wie gemacht für dieses Medium.

Denn die Textsplitter von „Vorher/Nachher“ sind vor allem musikalisch strukturiert. Manchmal hört es sich an wie eine Bildbeschreibung, der Gegenstand ist gegeben und die Betrachtung kommt von außen. Dann folgen Erzählungen, die sich wie ein Drehbuch in Regieanweisungen fortsetzen. Mit dem nächsten Schnitt tauchen die Stimmen von Rosemarie Fendel, Justine del Corte, Traugott Buhre und Eckhard Windhaus tief in innere Monologe. Dabei wechselt nicht nur ständig die Perspektive, aus der ein Motiv, etwa die Geschichte eines Seitensprungs, beschrieben und variiert wird: aus der Spannung davor, aus dem unmittelbaren Erleben, in der Beobachtung eines anderen Paares, im Streit Jahre später und in grauhaariger Versöhnung.

Vor allem verändern sich die Einstellungsgrößen und die Geschwindigkeiten der Wahrnehmung. Die eine Erzählebene geht in der Zeit voran, die andere zurück. Keine filmische Umsetzung und keine auf dem Theater kann dieses Geflecht aus Blicken von innen und außen, aus Schnitten zwischen verschiedenen Fließgeschwindigkeiten so schön transportieren wie diese Fassung als Lesung.

Da gibt es die Episode vom „Mann vor dem Bild“, der bei der Betrachtung einer Landschaft plötzlich wie in einem Riss in der Zeit jenen Moment erinnert, als er in einem Museum schon einmal vor diesem Bild stand und sich gerade von einer generellen Sinnkrise erholte. Die Fortsetzung, der „Mann im Bild“, ist dann strukturiert wie eine Zeitreise, die in sechs Minuten die Geschichte der Industrialisierung aufrollt. Sie endet damit, wie der Mann, der im zwanzigsten Jahrhundert die vorindustrielle Landschaft betrachtet, im neunzehnten Jahrhundert den Auftrag zu diesem Bild erteilt hat. So öffnen sich in „Vorher/Nachher“ hinter jedem Moment der Gegenwart jeweils verschiedene Türen zu anderen Formen des Bewusstseins. Darin gleicht das Stück den Konzepten des Nouveau Roman.

Ähnliche Kompositionsmuster in der Verschränkung von Erzählebenen, die der Zufall gemischt zu haben scheint, hat Schimmelpfennig auch in seinen Stücken „Vor langer Zeit im Mai“, „Push up“ und „Arabische Nacht“ genutzt, die in den Münchner Kammerspielen, der Schaubühne in Berlin und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg seinen Ruf als ein junger Nachfahre des Surrealismus gefestigt haben. Zwar gibt es auch in „Vorher/Nachher“ Einschübe aus den Dimensionen des Trash, des Science-Fiction und Fantasy-Romans: von aggressiven Käfern und unbekannten Organismen, die aus dem Kosmos kommen. Aber das wirkt weniger surreal denn wie ein dramaturgischer Trick, sich aus dem Mikrokosmos eines Wutanfalls oder einer jahrelang unterdrückten Zurücksetzung hinauszuschleudern in eine neue Perspektive. Die Weltkugel dreht sich, man weiß nicht, wie oft, bevor wir uns zurückzoomen zu dem gleichen Paar, im gleichen Zimmer, Jahre später.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Roland Schimmelpfennig: „Vorher/Nachher“. Hrsg. vom Hessischen Rundfunk, 19,90 €