Die Franz haut einen raus

Mit Franziska van Almsick als zentraler Figur holt das deutsche Schwimmteam emsig Medaillen bei der Europameisterschaft. Gestern gewann die Berlinerin auch das Kraulrennen über 100 Meter

aus Berlin MATTI LIESKE

Das Drehbuch des deutschen Teams bei der Schwimm-Europameisterschaft könnte glatt von Rudi Völler geschrieben sein. Fast in jedem zweiten Satz wird der Mannschaftsgeist beschworen, wo man hinschaut, herrscht eitel Harmonie, sogar Franziska van Almsick, Outcast vergangener Tage, schwärmt unablässig vom wunderbaren „Zusammengehörigkeitsgefühl“ und sieht dank gegenseitiger Unterstützung gar „kleine Flügel“ auf den Rücken der Athletinnen und Athleten wachsen. Solchermaßen beschwingt, kraulen, schmettern und brüsteln sie von Erfolg zu Erfolg. Und wäre dieser Tage Olympia und nicht bloß EM, die stolzen Amerikaner und Australier müssten sich schon warm ausziehen, um dieser geballten Solidaritätsoffensive etwas entgegensetzen zu können.

Geschrieben hat das Drehbuch aber gar nicht Rudi Völler, sondern nach allgemeinem Bekunden Ralf Beckmann, der nach dem Debakel bei den Olympischen Spielen in Sydney den Posten des Cheftrainers übernahm. Nach langem Zögern, wie er gern zugibt, denn der Job schien ein sehr undankbarer. Vorgänger Winfried Leopold hatte komplett die Kontrolle über die zur Divenhaftigkeit neigenden Wassersportler verloren, Neid und Zwist bestimmten das Bild. Im Mittelpunkt Franziska van Almsick, die nicht nur zu langsam schwamm, sondern auch noch von der heimischen Boulevardpresse ihr Fett wegbekam.

Beckmann habe es geschafft, so heißt es, mit souveräner Autorität die Wogen zu glätten und „36 Sturköppe“ (van Almsick) unter einen Hut zu bringen. Die Aktiven selbst hätten nach Sydney gemerkt, dass es so nicht weitergehen kann, spielt indes der Trainer seinen Anteil herunter. Es habe ein „Zusammenraufen“ stattgefunden, konstatiert auch Franziska van Almsick. Hilfreich war dabei sicherlich, dass die 24-jährige Berlinerin nach Sydney von der Bildfläche verschwunden war und das Zusammenraufen genauso wenig behinderte wie die Hamburgerin Sandra Völker. Die hatte so sehr mit ihrer Leistung und ihrem Rücken zu kämpfen, dass sich ihre Sonderstellung von selbst erledigte.

In Berlin präsentierte sich das Team nach der erfolgreichen WM von Fukuoka im letzten Jahr so gefestigt, dass die Wiedereingliederung der Franziska van Almsick geradezu perfekt gelang. Fast selbstverständlich füllt sie bei der EM die Rolle der Elder Stateswoman aus und besticht mit einer ruhigen Souveränität, wie sie ihr lange nicht mehr zu Eigen war. Nach dem Titelgewinn in der 200-m-Freistil-Staffel platziert sie sich in der Pressekonferenz ganz routiniert und selbstverständlich vor einem eigenen Mikrofon, und die Kolleginnen scheinen heilfroh, dass sich jemand so bereitwillig für die schwierige Aufgabe des Redenschwingens findet. Und auch nach ihrem gestrigen EM-Titel über 100 m Kraul, den sie in 54,39 Sek. und nach eigenem Bekunden ziemlich unerwartet gewann, verströmte van Almsick beste Laune auf dem Podium. Kein Wunder: Dreimal gestartet, dreimal Gold gewonnen – da lässt sich locker plaudern.

Erleichtert wird die Akzeptanz im Team dadurch, dass sich van Almsick mit Hilfe ihres Trainers Norbert Warnatzsch in eine Form gebracht hat, wie sie diese zuletzt vielleicht in Atlanta 1996 hatte. Damals hatte sie auf ihrer Spezialstrecke, den 200 m Freistil, „nur“ Silber gewonnen, was man ihr hierzulande ähnlich übel nahm wie Jan UIlrich seine zweiten Plätze bei der Tour de France. Überzogene Ansprüche schienen ihr zunehmend zuzusetzen, und nach Sydney war die nationale Schwimmheldin in einer ähnlichen Situation wie der nationale Radheros im Augenblick. Entweder die Karriere beenden oder noch einmal richtig angreifen hießen die Alternativen.

Van Almsick entschied sich für die zweite Variante und redet jetzt wieder ganz selbstverständlich davon, am Samstag ihren acht Jahre alten Weltrekord über 200 m zu verbessern. Und auch in der Staffel sei es „nicht mehr lange hin“, bis man die alte Bestmarke der DDR-Staffel von 1987 knacken könne.

Am Dienstag war der antike Weltrekord jedoch nicht in Gefahr. Man könne beruhigt in solch ein Rennen gehen, sagte anschließend die Startschwimmerin Petra Dallmann, weil man ja wisse, „die Franz kommt hinten und haut noch einen raus“. In Wahrheit ging „die Franz“ mit so viel Vorsprung auf die letzten Bahnen, dass vermutlich sogar ihr Mineralwasser-Double den Sieg nach Hause geschwommen hätte. „Ich wollte schon zeigen, was ich kann“, sagte van Almsick, ließ aber anklingen, dass es ihr nicht unlieb war, Kräfte für größere Aufgaben sparen zu können. Und schließlich hatte es den Weltrekord ja schon einen Tag vorher in der 100-m-Freistil-Staffel gegeben.

Cheftrainer Ralf Beckmann ist die Art des Auftrumpfens bei dieser EM fast schon unheimlich. „Wir müssen bremsen“, sagt der 55-Jährige, „damit wir wieder Gas geben können für neue Erfolge.“ Solange diese anhalten, wird eine interessante Frage ihrer Antwort harren müssen: ob denn tatsächlich gewonnen wird, weil Harmonie herrscht, oder ob nicht eher Harmonie herrscht, weil gewonnen wird.