Rückseitige Schriften

Gezeichnetes und Geschriebenes: Die Ausstellung „Adé 20. Jahrhundert“ bietet Künstlerkorrespondenzen – und einen historischen Rückblick

von CHRISTIAN T. SCHÖN

Woran werden wir uns in 100 Jahren erinnern, wenn alle E-Mails und SMS gelöscht sind? Die konventionelle Korrespondenz wird dann wahrscheinlich keinen so umfangreichen Überblick über das Jahrhundert bieten wie die Ausstellung Adé 20. Jahrhundert – Illustrierte Handschriften beleuchten Licht- und Schattenseiten in der Staats- und Universitätsbibliothek.

Die Präsentation beginnt mit kleinformatigen Illustrationen, kolorierten Pflanzen- und Landschaftskizzen, lockeren Gruß- und Glückwunsch-Botschaften. Von den für viele andere Künstlerbiographien einschneidenden Erlebnissen des Ersten Weltkriegs oder dem Swing der 20er ist in den raschen Skizzen und millimetergenauen Zeichnungen des Thüringer Malers Alexander Gerbig (1878–1948) kaum was zu spüren: Die Fischer fischen, die Sonne scheint. Das mag an der vom Berliner Puls abgeschiedenen Lage der Stadt Suhl liegen, in die die Großzahl der an den Sammler Wolfgang Knop gerichtete Korrespondenz adressiert wurde. Vielleicht erschien der Krieg auch nur allzu bekannt und alltäglich für briefliche Mitteilungen.

Mit dem Schulaufsatz „Durch Flammen und Rauch“ übernimmt 1942 jedoch eine ausdrucksstarke Künstlerpersönlichkeit die Zeitkritik: Der damals 12-jährige Armin Münch kombiniert einen indoktrinierten Durchhalte-Schultext mit der Zeichnung eines kopflos fliehenden Kanonen-Pferde-Gespanns. Und in den folgenden Jahren füllt er seine Tagebuchseiten weiter mit ganzseitigen, tintengetränkten Mahnungen: „Ausgebrannter Panzer“ (9.5. 1945), „Aufbau Dresden“ (1953), „Atombombenwettrüstungslauf“ (1957) oder „Kuba Krise“ (1962).

Großzügig geordnet folgen die Vitrinen chronologisch dem Jahrhundertverlauf. Durch den lokalen Bezug – Knop lebt in Thüringen – gewinnt man nebenbei Einblick in den Künstleralltag in der DDR. Altstadtfassaden verfallen: „Was vor zwanzig Jahren noch leidlich gut war, ist heute bereits leer und der Spitzhacke geweiht. Der Gleichmut der Staatsmacht, die sich als ,Sieger der Geschichte‘ feiert, ist erschreckend.“ (Werner Schinko, 1971)

Mit dem Fall der Mauer rücken die klecksigen Karikaturen des Graphikers Günter Lerch in den Mittelpunkt. Am 5. November 1989 noch umrahmt Karl-Georg Hirsch einen imposanten Sisyphus mit dem handgeschriebenen Wunsch: „Ich hoffe, Sie, wir können alle bald ungehindert reisen...“ Und kurz darauf sprengt Feliks Büttner mit schnellen schwarzen und roten Strichen schon ein Loch in die Berliner Mauer: „rumms!“

Insgesamt ist Adé 20. Jahrhundert ein stark reflektierender, wohlweislich lückenhafter Rückblick, dessen historische Bezüge nicht selten auf den Text-Rückseiten der Exponate liegt. Die E-Mail- und SMS-Korrespondenz des 21. Jahrhunderts wird neue, noch zu entdeckende Darstellungsdimensionen der Künstlerfreundschaft zu Tage fördern. Andeutungsvoll endet die Ausstellung Adé 20. Jahrhundert mit einem am Computer geschriebenen Brief.

Mo–Fr 9–21 Uhr, Sa 10–13 Uhr, Staats- und Universitätsbibliothek; bis 7.9.; Katalog von Wolfgang Knop, Eigenverlag, 181 Abb., 25 Euro