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der housesitterKleine Typenlehre

Nachbars Flora

Gestern habe ich es nicht mehr ausgehalten und den Hibiskus von Frau L. mit nach Hause genommen. Er gehört zu einer Sorte von Pflanzen, die es immer feucht haben müssen, und das kann ich nicht garantieren, bei vier Wohnungen, die ich zurzeit einhüte. Noch dazu wohnt Frau L. nicht um die Ecke, und bei der Hitze wird da auch der pflichtbewussteste Housesitter ein bisschen träge.

Dieser Hibiskus ist ein ganz sensibles Pflänzchen – ich habe das schon nach dem Sturm vor drei Wochen beobachten können: Eigentlich hat er einen einigermaßen wind- und regengeschützten Platz auf dem Balkon. Doch das Unwetter muss ein traumatisches Erlebnis für das kleine Bäumchen gewesen sein. Die Blätter färbten sich hellgelb und lagen am nächsten Morgen wie an einem schönen Herbsttag um den Topf verteilt. Bei dem Anblick habe ich mich an die Geschichte von einem Jazzpianisten erinnert, dem nach einem lauten Streit mit seiner Freundin über Nacht alle Haare ausgefallen waren. Ob auch Pflanzen so etwas wie einen Adrenalinschock haben können?

Was Pflanzen angeht, kann man unter meinen urlaubenden Nachbarn vier Typen ausmachen. Die einen nenne ich die Afloriker. Als Housesitter sind sie mir die liebsten. Vegetation gibt es in ihren Wohnungen, wenn, nur im Kühlschrank oder im Mülleimer.

Der zweite Typ ist der so genannte Staubfängerhalter. Das sind Leute, die sich irgendwann in ihrer Studentenzeit einen Ficus Benjamini, eine Palme oder einen Affenbrotbaum aus dem Ikea-Sortiment geholt haben, um eine freie Zimmerecke zu füllen, und diese Pflanzen über die Jahre zu eiserner Askese erzogen haben. Es ist immer eine Freude, diese Pflanzen mit ein bisschen mehr Wasser und Dünger zum Sprießen zu bringen.

Der dritte Typ hat schon eine Beziehung zu Pflanzen, meistens in Form von Kräutern, Blumensträußen und uralten, gut gedeihenden und stets abgestaubten Kübelpflanzen. Da gibt es gar keine Probleme. In der Wohnung der Familie S. beispielsweise stehen überall Eimer, von denen Schläuche in die Blumenkübel führen. Die Pflanzen hängen sozusagen am Tropf. Ich muss nur aufpassen, dass immer genug Wasser drin ist.

Der vierte Typ ist der komplizierteste: Kakteen, Orangenbäumchen, Azaleen, die ganze Wohnung steht voll mit sensiblen Pflanzen, von dene ich immer eine auf irgendeinem Regalbrett übersehe. Und wehe, man dosiert die Feuchtigkeit nicht genau – wie bei besagtem Hibiskus.

Ich möchte Frau L. jedenfalls den traurigen Anblick eines Bäumchens fast ohne Blätter, aber mit riesigen Blüten ersparen, wenn sie von ihrer sechswöchigen USA-Reise zurückkehrt. Und gestern verfärbten sich auch die kleinen Blätter, die inzwischen nachgewachsen sind. Vielleicht ist es nur das schwüle Wetter, das ihnen zu schaffen macht. Bei mir zu Hause ist wenigstens immer für Wasser gesorgt und auch für Gesellschaft. Ich habe ihr einen Zettel dagelassen, damit sie nicht erschrickt.

JÖRN KABISCH

Jörn Kabisch geht diesen Sommer nicht wie seine Kollegen nach Feierabend ins Schwimmbad. Er hütet Wohnungen.

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