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Die Aura des Vergänglichen

Alte Möbel zu Skulpturen: Während Objekte aus Tropenhölzern an die Zeiten scheinbar unbegrenzter Ressourcen erinnern, lassen sich schmuddlige Kunststoffgegenstände per Anstrich wieder aufmöbeln

von MICHAEL KASISKE

Tassen mit orangefarbenem Muster hatte ich schon einmal in der Hand. Als ich sie kaum umfassen konnte, vor über dreißig Jahren, befand sich solch ultraschickes Gerät im mütterlichen Küchenschrank. Viel toller fand ich als Kind freilich die überbordenden Ornamente auf Omas Service. Von so einem reich dekorierten Geschirr, so stellte ich mir vor, hat Aschenputtel einst gespeist, nachdem der Prinz sie gefunden hatte.

Mittlerweile habe ich Großmutters „Gelsenkirchener Barock“ als Maskerade des Wirtschaftswunders entlarvt, und an die Stelle von Vorlieben sind – im Studium gewonnene – Kenntnisse über Formen und ihre Aussagen getreten. Märchenhaft erscheint allenfalls, wenn Einrichtungsgegenstände, die in jedem Detail eine vergangene Periode verkörpern, real vor einem stehen. Was in den beiden Geschäften von „Jochum + Tissi – 20th Century Design“ wiederum ganz alltäglich ist und doch entsprechend in Szene gesetzt wird: In den weißen Räumen an der Alten Schönhauser Straße werden die Möbel zu Skulpturen geadelt.

Unversehrte Originale

Die beiden Inhaber, Hans Peter Jochum und Clemens Tissi, verfolgen denn auch das Konzept einer Kunstgalerie. „Einige Besucher sind erstaunt, dass alte Möbel oftmals teurer sind als aktuell produzierte Ausgaben“, stellt Tissi fest, „doch es sind eben Originale in einem einwandfreien Zustand.“ Tatsächlich wirken die Objekte wie nach dem letzten Schliff, obgleich die Bezüge oder die Formen auf ein würdiges Alter schließen lassen.

In den Jahren des Handels mit diesen der Vergänglichkeit entrissenen Preziosen haben sich Jochum und Tissi auf ausgewählte Designer spezialisiert. So sind sie stolz darauf, einige Einzelstücke aus dem vielseitigen Werk von Gio Ponti (1891–1979) anbieten zu können. Der Mailänder Architekt, dessen Pirelli-Hochhaus vor einigen Monaten durch den Einschlag eines Sportflugzeugs ins Rampenlicht geriet, hat ein umfangreiches Werk an Möbeln, Porzellan, Keramiken und anderen Gebrauchsgütern geschaffen. Auch aus dem vor der Emigration in Stuttgart entstandenen Frühwerk des heute vor allem als konkreter Maler bekannten Schweizers Camille Graeser (1892–1980) findet man Teile im Bestand von Jochum + Tissi.

Diese wertvollen Stücke stehen für die Gestaltung der Moderne und strahlen die Aura von Progressivität aus, die ihre künftigen Besitzter ebenso genießen werden, wie man sich auch an der Erstausgabe eines Buchs ergötzen kann. Daran muss ich in den Wohnungen von Freunden denken, wo Hirtenteppiche und Pressglashängeleuchten die Kindheit wieder auferstehen lassen. Nicht als 1:1-Nachahmung, sondern – in dieser Transzendenz liegt die kulturelle Leistung – als idealisiertes Umfeld.

Die Freiheit der Fiktion nimmt sich auch Katja Dierssen vom „Annachorn-Möbelsalon“. Bei der Aufarbeitung der Möbel vor allem aus den 1970er-Jahren genießt nicht die Originalität oberste Priorität. Vielmehr interpretiert sie die vorgefundenen Formen durch neue Farben, andere Materialien und eine eigene Verarbeitung.

Im Laden steht ein riesiges, gepolstertes Doppelbett, das aus der Zeit stammen muss, als die möblierte Zukunft noch das multifunktionale Raumschiff jenseits von Ressourcenbeschränkung und Umweltkatastrophen zu sein schien. Jedenfalls wäre es nicht verwunderlich, würde es einen Knopf mit der Aufschrift „Glück“ geben. Was immer das auch bei diesem Bett bedeuten würde, die Reise in eine hoffnungsvollere Periode der Vergangenheit tritt der – bequem –Liegende hier jedenfalls an.

Auch bei „Magasin – Retro Interieur“ sind sie wieder da: die Stühle aus Kunststoff oder mit Stahlrohrgestell und dem scheinbar unverwüstlichen Sitz aus Resopal, die Tische aus massiven Hölzern. Das Stück einer abgehängten Decke ist an die Wand gestellt und wirkt mit dem quadratischen Hohlkörper aus weißem Plastik wie ein Display für Krimskrams.

Nicht nur die hellen und karg ausgestatteten Räume lassen die Stücke erscheinen, als seien sie mit einer Verspätung von mindestens dreißig soeben erst der Transportkiste entstiegen. Die Crew im Magasin legt großen Wert auf Qualität, sowohl bei der Auswahl als auch bei der Aufarbeitung. Zur Nachhaltigkeit kommt außerdem das Exklusive: Die Objekte aus der Zeit bis in die 1980er-Jahre sind oftmals aus Tropenhölzern hergestellt. Zum Schutz der Regenwälder dürfen diese Bäume heute nicht mehr gefällt werden, so dass im gängigen Handel keine Möbel mehr gekauft werden können, die etwa aus Palisander bestehen. So ist der Tisch am Eingang mit der wilden Maserung nicht nur ein Blickfang, sondern auch eine Reminiszenz an die Zeiten scheinbar unbegrenzter Ressourcen.

Sicher gibt es Grenzen bei der Aufarbeitung; das einst weiße Sideboard wird nie mehr so strahlen wie in den 1970er-Jahren. Kunststoffgegenstände aber, die nach vielen Jahren meistens schmuddelig wirken, können durch eine neue Lackierung richtig aufgemöbelt werden, und der Lack hat auch Bestand, versichert die Crew vom Magasin.

Charmante Altersspuren

Wer Möbeln aus jenen Zeiten lieber seine individuelle Prägung geben will, findet bei „Schönhauser Design“ eine gute Auswahl. Der Zustand ist in Ordnung, und die Altersspuren sind unverkennbar, was sich im Preis positiv bemerkbar macht. Ein gute Auswahl an Stühlen von Charles und Ray Eames ist fast immer vorrätig, daneben oft auch Stühle aus Kunststoff wie der „Bofinger“, der erste in einem Stück gegossene und ohne jegliche Handarbeit gefertigten Plastikstuhl.

Die Tassen mit den orangefarbenen Dekors aus der elterlichen Küche habe ich übrigens weggeworfen, die Wasserstrahlen der Spülmaschine waren stärker als die Kraft der Farben. Heute ein unverbrauchtes Stück in der Hand zu halten erscheint wie ein Element der ohnehin collagierten Gegenwart. Anders war das Wiedersehen in einem Laden mit einer „Schöner Wohnen“-Ausgabe, die ich einst am Kiosk erworben hatte, um noch ganz unbescholten von Theorie und praktischen Erwägungen die Welt der Innenarchitektur zu entdecken. Da war ich einen kurzen Moment gerührt. Und angesichts des steten Flusses neuer Eindrücke heißt das schon viel.

annachron Möbelsalon, Torstraße 93, Berlin-Mitte, www.annachron.de Jochum + Tissi, Alte Schönhauser Straße 38, Berlin-Mitte und Bleibtreustraße 41, Berlin-Charlottenburg,www.hpjochum.de magasin Retro Interieur, Lychener Straße 3, Berlin-Prenzlauer Berg,www.magasin-berlin.deschoenhauser design, Neue Schönhauser Straße 18, Berlin-Mitte, www.schoenhauser-design.de

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