Melodram der Perfektion

Mit dem Weltrekord über 200 m Freistil knüpft Franziska van Almsick an große, alte Zeiten an, die längst vorüber schienen, und denkt nun über ihre weitere Zukunft als Schwimmerin nach

aus Berlin MATTI LIESKE

Bis zum Rennen sei es kein guter Tag gewesen, sagte Franziska van Almsick am Samstag, „genau wie damals in Rom“. Damals in Rom, das war bei den Weltmeisterschaften 1994, als sie den Einzug in den Endlauf über 200 m Freistil vertrödelt hatte, dann doch starten konnte, weil Teamkollegin Dagmar Hase auf ihren Platz verzichtete, und schließlich den Titel gewann – mit Weltrekord. Just jener Weltrekord, den die Schwimmerin jetzt bei den Europameisterschaften in Berlin um 14 Hundertstel auf 1,56,64 Minuten verbesserte.

Morgens habe sie sich noch furchtbar krank gefühlt und überlegt, wie sie den Leuten erklären könnte, dass ein Start unmöglich sei, berichtete die 24-Jährige, dann sei sie hypernervös gewesen und habe noch zehn Minuten vor dem Rennen daran gedacht, lieber spazieren zu gehen. Tat sie natürlich nicht. Stattdessen kam Franziska van Almsick pflichtschuldigst in die tobende Halle, ließ sich gebührend feiern, hüpfte ins Wasser, kletterte wieder hinaus und ließ sich für ihr viertes EM-Gold erst recht feiern. Dazwischen lag das, was ihr derzeit keine Probleme bereitet: Schwimmen. „Ich wusste, dass ich über 100 m die Schnellste bin, und aufgrund des Trainings auch, dass ich hinten nicht einbreche.“ Dass es Weltrekord würde, hätte sie nicht gedacht, groß gewundert hat es sie nicht.

Der EM-Titel auf ihrer Spezialstrecke war nicht nur eine glorreiche Rückkehr zu früherer Größe, sondern auch der melodramatische Höhepunkt einer phänomenalen Woche, in der Franziska van Almsick alles zu Gold geriet. In Berlin fühlte sie sich „getragen von der Sympathie der Leute“, war „zum ersten Mal in der Lage, die Begeisterung richtig aufzusaugen“. Sie war der absolute Star dieser EM und sogar innerhalb der deutschen Mannschaft unangefochten die Nummer eins. „Es passt alles so perfekt, wie es noch nie in meinem Leben gepasst hat“, fasste van Almsick die Erfahrung dieser Tage zusammen.

Die Berlinerin ist indessen leiderprobt genug, um der Euphorie eine gehörige Portion Skepsis beizumischen. „Es ist so wahnsinnig toll, dass ich Angst habe, dass es abreißt“, sagt sie und fügt hinzu: „Ich habe viele Situationen nicht vergessen.“ Die Besorgnis ist verständlich, denn „Everybody’s Darling“ war sie schon einmal, vor ziemlich genau zehn Jahren, als sie bei Olympia in Barcelona als nationale Schwimm-Lolita zum ersten gesamtdeutschen Sportstar avancierte. Die Fußballweltmeister, Boris Becker, Steffi Graf gehörten dem Westen, Heike Drechsler, Gunda Niemann und (noch) Henry Maske dem Osten. Nur Franzi gehörte allen.

Das Idyll fand bald ein Ende. Schon über dem Weltrekord von Rom lag ein Schatten, weil sofort gemutmaßt wurde, dass Dagmar Hases Opfer mit Sponsorengeldern erkauft worden sei, die Niederlage 1996 in Atlanta gegen Claudia Poll aus Costa Rica, die später wegen Dopings gesperrt wurde, ließ van Almsick von einem „unmenschlichen Druck“ sprechen, der auf ihr laste. „Vier Jahre in der Weltspitze sind kein Katzenschlecken“, sagte sie damals ebenso schön wie weise. Den Tiefpunkt erlebte sie vor zwei Jahren bei Olympia, wo sie zum Sündenbock in einem zerstrittenen Team gestempelt und mit Häme überschüttet wurde.

2000 sei ein „einschneidendes Jahr“ gewesen. Nicht nur kam sie in Sydney ihrem jetzigen Freund Stefan Kretzschmar näher, sie habe überhaupt viele neue Leute kennen gelernt und vor allem nachgedacht. In Berlin präsentierte sich van Almsick als deutliche gereifte Persönlichkeit, die sich ihrer Rolle bewusst ist und sie mit Ruhe und Routine spielt. Das fällt leicht, wenn man gewinnt, aber es schien auch so, als sei der Grad ihres Glücklichseins nicht mehr vorrangig davon abhängig, wie gut sie schwimmt. Eine wichtige Rolle spielt der sportliche Erfolg dennoch, was deutlich wurde, als sie fast ingrimmig erklärte: „Nur wenige haben an mich geglaubt und ich spüre große Zufriedenheit, dass ich verdammt noch mal Recht hatte.“

Nach wie vor misst sie große Bedeutung offenbar dem bei, was über sie in der Zeitung steht, weshalb sie der Zukunft etwas bang entgegenblickt. „Ich habe in der Vergangenheit gelernt, dass Dinge, die ich in Angriff nehme, verglichen werden.“ Und den Maßstab habe sie bei dieser EM „ziemlich hochgetrieben“. Der Fahrplan, den die Dramaturgie des Sports nun vorschreibt, scheint klar: Im nächsten Jahr der Weltmeistertitel in Barcelona, Stätte ihrer sportlichen Geburt 1992, ein Jahr später als Höhepunkt die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Athen, die ihre erste überhaupt wäre.

Klar ist Franziska van Almsick aber auch, dass das kleinste Scheitern, ein verpasstes Finale in Barcelona, ein zweiter Platz in Athen oder, noch schlimmer, private Turbulenzen den feuchten Traum der Medien schnell wieder zu Trockenfutter für den Boulevard mutieren ließen. Deshalb will sie nun im Urlaub auch überlegen, ob der Triumphzug von Berlin nicht der ideale Abschluss für ihre sportliche Laufbahn wäre. Nur eine EM zwar, aber ein größeres emotionales Erlebnis als die Titel- und Sympathieflut vor heimischem Publikum werden Barcelona und Athen kaum bieten können. Wie es ist, im relativen Vollbesitz seiner sportlichen Fähigkeiten zurückzutreten, das könnte sie beim Erfolgsmodell Steffi Graf erfragen, aber auch bei den weniger ermutigenden Beispielen Boris Becker oder Michael Jordan. Zu hoffen ist nur, dass sie, wenn sie für den Rücktritt optieren sollte, nicht in fünf Jahren anfängt, Schauschwimmen gegen Sandra Völker, Inge de Bruijn und Kristin Otto zu absolvieren.