: Der König der Kinder
Heute vor 60 Jahren wurden 200 Zöglinge des Waisenhauses im Warschauer Ghetto nach Treblinka deportiert. Mit ihnen starb auch der Schriftsteller und führende Reformpädagoge Janusz Korczak
von GABRIELE LESSER
Warschau, 5. August 1942. Ein freundlich-warmer Sommertag kündigt sich an. „Raus, alle Juden raus!“, schreien SS-Männer und umstellen das jüdische Waisenhaus in der Sliskastraße. Die Kinder, noch schlaftrunken, kommen die Treppe herab und stellen sich in Viererreihen auf: So wie früher, als sie im August in die Ferien fuhren. Janusz Korczak, ihr vertrauter „alter Doktor“, verlässt als Letzter das Haus. Auf dem Arm hat er ein kleines Mädchen. Auch Stefania Wilczynska, die „Mutter“ und gute Seele im Haus, nimmt zwei Kinder an die Hand. „Schneller“, gellt es durch das Ghetto. Die Kinder nehmen sich an der Hand. Korczak geht an der Spitze. Was er denkt, was er fühlt, wird niemand je erfahren. Unwillkürlich weicht die Menge vor „dem König der Kinder“ und den hinter ihm gehenden 200 Waisen zurück. Vier Stunden brauchen sie bis ans andere Ende des Ghettos. Sie gehen die Sliskastraße entlang, die Sosnowa, Twarda, Zelazna, Nowolipie, Karmelicka, die Zamenhofstraße.
Schließlich kommen sie auf dem Gemüsemarkt der Slawkistraße an und auf dem Umschlagplatz. Hier wartet bereits der Todeszug nach Treblinka. Noch am selben Tag fährt der Zug ab. Die Zurückbleibenden packt das schweigende Entsetzen. Mit Korczak und den Kindern stirbt im Warschauer Ghetto die letzte Hoffnung. 120 Kilometer nordöstlich von Warschau müssen sich alle auskleiden und „duschen“. Bis August 1943 sterben in den Gaskammern von Treblinka 870.000 Menschen. Heute reichen die symbolischen Grabsteine aus rötlich schimmerdem Granit bis an den Horizont. 17 Hektar war das Lager groß. Und es gibt nur ein einziges Grabmal mit einem Namen: „Janusz Korczak (Henryk Goldszmit) und seine Kinder“.
Janusz Korczak war schon zu Lebzeiten eine Legende. Das 1912 nach seinen Plänen gebaute „Dom Sierot“ (Waisenhaus) in der Krochmalnastraße zog Reformpädagogen aus aller Welt nach Warschau. Nicht nur das Gebäude war hell, freundlich und offen, auch die Kinder wirkten selbstbewusster und fröhlicher als in anderen Heimen. Auf dem Dach wehte die grüne Fahne der Kinderrepublik. Und tatsächlich gab es ein Kinderparlament, eine Selbstverwaltung, ein Gericht und sogar eine eigene Zeitung, den Maly Przeglad (Die Kleine Rundschau). Diese erste landesweit erscheinende Kinderzeitung Polens erschien seit 1926 als wöchentliche Beilage zum jüdischen Nasz Przeglad (Unsere Rundschau), einem bedeutenden Blatt der Zwischenkriegszeit. Zum ersten Mal in der Pressegeschichte machten Kinder ihre Zeitung selbst.
Der in Warschau, Berlin, Paris und London ausgebildete Arzt hatte selbst eine bewegte Kindheit hinter sich. Geboren wurde er als Henryk Goldszmit in Warschau 1878 oder 1879 – das genaue Datum ließ sich Jahre später, als der Vater sich endlich um einen Geburtsschein bemühte, nicht mehr feststellen. In den ersten acht Jahren lernt der Junge die Welt des Wohlstand und Luxus kennen. Doch auf den frühen Tod des Vaters in einer Nervenheilanstalt folgt der soziale Absturz. Der Vater hatte das gesamte Vermögen verspielt.
Der Junge gibt Nachhilfestunden, nimmt jede Arbeit an, die er bekommen kann, um die Familie über Wasser zu halten. Er beginnt zu schreiben. 1899 gewinnt er unter dem Pseudonym Janusz Korczak einen literarischen Wettbewerb. Den Namen behält er ein Leben lang bei. In seinen ersten Romanen „Kinder der Straße“ und „Kind des Salons“ schildert er die eigene Kindheit. Sie machen ihn berühmt.
1912 übernimmt der hochgeschätzte Warschauer Kinderarzt die Leitung des jüdischen Waisenhauses „Dom Sierot“. Selbst als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht und er als Militärarzt eingezogen wird, lassen ihn die Kinder nicht los. In den Unterständen entsteht sein pädagogisches Hauptwerk: „Wie man ein Kind lieben soll“. Kinder, so Korczak, sind genauso Menschen wie die Erwachsenen auch, die einen klein, die anderen groß. Er fordert eine Magna Charta Libertatis für das Kind und schreibt die Menschenkinderrechte auf: Das Recht des Kindes auf seinen Tod; Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag; Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist; Das Recht des Kindes auf Achtung …
In den Radioplaudereien des „alten Doktors“ erzählt er Märchen, kleine Begebenheiten aus dem Alltag und macht die „fröhliche Pädagogik“ populär. 1936 wird die beliebte Sendung gekippt. Die Antisemiten im Radio wollen keinen Juden mehr ans Mikrofon lassen.
Zwei Mal reist Korczak nach Palästina, lässt sich das Leben im Kibbuz erklären. Und ist fasziniert. Er will emigrieren. Doch ohne seine Kinder fährt er nicht. So bleibt er in Warschau.
1940 muss das Waisenhaus ins Ghetto umziehen. Korczak wird verhaftet und kommt nach einem Monat als gebrochener Mann zu den Kindern zurück. „Die Deutschen sind zu allem fähig“, sagt er ein ums andere Mal. Doch er rafft sich auf. Die Kinder brauchen ihn mehr denn je. Er besorgt Essen, Kleidung, Spielzeug – alles, was es im Ghetto eigentlich nicht gibt. Und er erzieht die Kinder weiterhin zu einem Leben in künftiger Freiheit, aber er macht sie auch mit dem Tod vertraut. Wenige Tage, bevor die SS-Männer das Haus umstellen, führen die Kinder ein Theaterstück des indischen Dichters Tagore auf. Amal, ein kleiner Junge, ist schwer krank und darf das Zimmer nicht verlassen. Zwar kann er das Leben „draußen“ aus seinem Fenster beobachten, doch Amal wird nicht gesund. Der Tod scheint ihn von seiner Sehnsucht nach dem Leben zu erlösen.
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