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: Welt sezieren mit Durs Grünbein und William S. Burroughs

Die paffenden Engel

Für seine Gedichtsammlung, die Durs Grünbein auf der CD „Das Ohr in der Uhr“ rezitiert, gehört das Foto auf dem Cover zum Konzept. Es zeigt ihn vor einer Vitrine, dahinter das Skelett eines Seehunds vermutlich. Das Maul ist geöffnet, als wollten die tierischen Überreste noch einmal nach Beute schnappen; doch Grünbein hält diesem letzten, von Präparatoren sorgfältig modulierten Angriff stand. Er flieht nicht, er sucht die Nähe zur todesstarren Vergangenheit.

Tatsächlich sind die 29 Stücke aus 13 Jahren, von den Fragmenten aus dem Eröffnungszyklus zum Gedichtband „Falten und Fallen“ (1994) bis in den lyrisch aufgefächerten Monolog „Berlin posthum“, akribisch protokollierte Momente eines musealisierten Daseins. Stets geht es darum, Situationen Wort für Wort zurückzuholen, sie festzumachen an den Kanthaken der Sprache. Oft ist die Erinnerung selbst an Bilder gekoppelt: Die „Daguerreotypie Baudelaires“ etwa setzt sich aus einigen Lebensstationen des französischen Schriftstellers zusammen und kreist fortwährend um jene ausgeblichene Fotografie. Auch Nachbilder und Röntgenbilder geben die Techniken der Visualisierung vor, an denen sich Grünbein im Text abarbeitet. Alles Sehen ist ein schmerzhafter Prozess, der mit einigem Pathos durchdekliniert wird. Was sich als scharf umrissene Kontur der Netzhaut einbrennt, ist eine sichtbar gemachte Verletzung; und auch das Röntgenbild des Schädels führt geradewegs in die Sterblichkeit: „durch Bestrahlung ist alles Fleisch restlos beseitigt worden / weiß auf dem Film liegt ein Schleier um leere Augenhöhlen / der Zigarettenrauch eines paffenden Engels“.

Für dieses expressionistische Bombardement mit Vanitas-Bildern und Verfallsallegorien, das auf CD immerhin 72 Minuten dauert, hat Grünbein seine Stimme ungeheuer diszipliniert. Keine Silbe bricht ihm während des fast monotonen Vortrags aus, in dem das Maß der Strophen allein den Rhythmus vorgibt. Manchmal werden die Texte dadurch unangenehm weihevoll, als wäre jeder im Alltag aufgespürte Wahrnehmungsbrocken gleich das schwere Gestein der Geschichte. Es ist noch immer die begeisterte Genauigkeit des Wissenschaftlers, mit der Grünbein als Dichter die Welt nach Art von Gottfried Benn an den Apparat der Sprache anschließt, stillstellt und betrachtet. Doch wenn er von seinen Taten spricht, klingt er nicht nach Arzt, eher wie ein friedvoll gestimmter Apotheker.

Wissenschaftlich geht es in den Tagebüchern von William S. Burroughs selten zu. Was er zwischen November 1996 und Juli 1997 – drei Tage vor seinem Tod – notierte, flimmert nervös als Kommentar auf eine Gegenwart, die eben erst den Raum verlassen hat. Zwar war bei dem 83 Jahre alten Schriftsteller weiterhin die Paranoia vor dem US-amerikanischen Staat der Antrieb fürs Schreiben – Überwachung und Kontrolle allerorten. Aber die unzähligen Eintragungen über Drogensucht und die Freuden der Halluzination lesen sich 2002 nur mehr wie ein Beatleben in weiter Ferne. Geschichte auch hier: Mal geht es um die Kaputtheit von Baudelaire, mit dem sich Burroughs verwandt fühlte, schließlich mochten beide Opium und beiden machte die Syphilis zu schaffen. Dann wieder ruft er sich Jean Genet, André Gide oder Allen Ginsburg in Erinnerung, um an deren ausschweifendem Lebenswandel die eigene Haltung zu überprüfen. Am schlimmsten scheint für Burroughs jedoch der allmähliche Verlust seiner Katzen zu sein, denn mit jedem toten Haustier wird es etwas stiller und leerer in seiner Wohnung.

Trotzdem sind Burroughs „Last Words“ auf CD nicht die sentimentalen Gesänge eines alten Mannes geworden. Gottfried Johns Stimme knarrt mit einer Sturheit durch die Texte, in der immer schon die Verächtlichkeit gegenüber dem Sterben liegt. Tod, na und, was ist das schon? Dazu hat Ulrike Haage Soundcollagen gebastelt, die von in sich gekehrtem Klavierspiel zu Ambientknistern aus der elektronischen Click’n’Cut-Schule springen. Das macht selbst die melancholischsten Grübeleien über das, was nach dem Ende kommen könnte, noch für den Club kompatibel. Nur die Sopraneinlagen einer Frau namens Bobo sind kein echter Sound of Burroughs, sondern Kirchenchor.

Irgendwann hat man ohnehin ganz vergessen, wer hier wen interpretiert. Dann erzählt John die Geschichte von einem Emporkömmling aus den Südstaaten, der bis zum Schluss Rache an seiner Umgebung nahm, bevor er rülpsend starb, als „ein völlig zufriedener, böser, alter Mann“ – und man denkt: Hoffentlich ist es Burroughs genauso ergangen. HARALD FRICKE

Durs Grünbein: „Das Ohr in der Uhr“. Gelesen von Durs Grünbein. Der Hör-Verlag DHV, 72 Min., 15,90 €ĽWilliam S. Burroughs/Ulrike Haage/Barbara Schäfer: „Last Words: Qui vivre verra“. Gelesen von Gottfried John. Sans Soleil, 66 Min., 17,90 €